7. März 2021
Überall in Amerika gibt es Männer und Frauen in Bezirks-, Staats- und Bundesgefängnissen, die aktiv als Knastanwälte und Knastanwältinnen arbeiten, aber die meisten von ihnen haben keine einzige Stunde an einer juristischen Fakultät verbracht. Sie haben auf ihre eigene Art und Weise gelernt, was „Recht“ ist, hart erkämpftes Wissen, das sie in jahrelanger Erfahrung im Kampf erworben haben.
Dies ist die Geschichte eines Rechts, das nicht in den Elfenbeintürmen von Universitäten gelehrt wird, die mit etlichen Millionen gesponsert werden, von ordentlichem Rasen umgeben sind und von armen Menschen am Laufen gehalten werden, die alle prosaischen Sorgen wegputzen, -kehren und -waschen. Es ist das Recht, das im Laderaum der Sklavenschiffe, in den verborgenen, dunklen Kerkern Amerikas – dem Gefängnishaus der Nationen – gelernt wurde.
Es ist ein Recht, das man in einer Welt der Verbitterung erlernt, unter der ständigen Drohung von Gewalt, an Orten, an denen Millionen von Menschen leben, die Millionen andere Menschen lieber ignorieren oder vergessen wollen.
Es ist ein Recht, das mit Bleistiftstummeln oder mit zehn Zentimeter langen, biegsamen Kuli-Minen geschrieben wird, mit Mut, gelegentlich auffunkelnder Brillanz und dem klaren Wissen, dass die Vergeltung vor der Zellentür lauert.
Es ist eine andere Perspektive auf das Recht, eine Perspektive von ganz unten, mit der vagen Hoffnung, dass ein Unrecht in Recht verwandelt, eine Ungerechtigkeit wiedergutgemacht werden kann.
Es ist hart errungenes Recht. Dies sind die Geschichten dieses Ringens.
Das Recht lernen
Das Folgende sind Geschichten und Berichte aus erster Hand – aus der Schattenwelt der Knastanwälte und Knastanwältinnen. Es sind Geschichten von Häftlingen, die ihre Zeit und ihre geistige Energie darauf verwenden, ihren oftmals ungebildeten und des Lesens und Schreibens nicht mächtigen Mithäftlingen, für wenig mehr als ein Päckchen Kaffee oder einen Beutel Tabak als Lohn zu helfen.
Steve Evans
Steve war ein schmächtiger, energiegeladener Mann mit einem ausgeprägten Hinken, da aus seiner Zeit in Nord-Philadelphia stammte. Mit einem lockigen Haar und seinen markanten Gesichtszügen sah er aus wie ein olivhäutiger Puerto-Ricaner. Aber wenn er den Mund aufmachte, zeigte sein Akzent deutlich, dass er aus Nord-Philadelphia, und erinnerte auch ein bisschen an die ursprüngliche Herkunft seiner Familie – Virginia.
Weil er sich weigerte, seine Zelle mir einem anderen Häftlinge zu teilen, wurde er ins „Loch“ gesteckt, die Disziplinarabteilung in Block B des 100 Jahre alten Staatsgefängnisses Huntingdon. In den ungefähr sieben Jahren, die er im „Loch“ verbrachte, verließ er kaum seine Zelle und wagte sich innerhalb dieser Zeit vielleicht alle zwei, drei Jahre auf den sogenannten Hof hinaus (der eigentlich nur aus einer Reihe von Käfigen bestand). Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er damit, durch seine Zellentür mit anderen Häftlingen zu quatschen oder ihnen kleine Botschaften zu schicken.
Er hatte zwei unumstößliche Regeln, die für seine Praxis verbindlich waren: keine Spitzel und keine Kinderschänder. Alle anderen Gefangenen konnten ihn um Hilfe bitten und er fand für gewöhnlich immer die Zeit, an ihren Fällen zu arbeiten. Außerdem fungierte er als Lehrer für jüngere Männer, die sich bemühten, Knastanwälte zu werden. Er arbeitete unaufhörlich.
Er bat andere Mitgefangene, sich sowohl aus der Rechtsbibliothek des Gefängnisses als auch von verschiedenen Gerichten die Unterlagen zu diversen Fällen zu bestellen (…)
Steve las also ununterbrochen, wobei er, immer eine Tasse Maxwell House Kaffee und seine starken selbstgedrehten Top-Zigaretten zur Hand, gern eine Pause einlegte, um mit Leuten, die sich dafür interessierten, bis tief in die Nacht hinein irgendwelche Fälle zu diskutieren.
Es hatte sich überall herumgesprochen, was er tat; die Männer wussten, dass sie ihm das Verfassen ihrer Schriftsätze anvertrauen konnten und dass er auch dann half, in der richtigen Form und am richtigen Ort Einspruch zu erheben, wenn kein Mensch sonst auf der Welt bereit war, sich darum zu kümmern. Hin und wieder kam dann jemand von seinem Gerichtstermin zurück und verkündete, Steves Rat sei richtig gewesen und er habe deswegen eine neue Anhörung in seinem Fall oder sogar ein neues Verfahren bekommen. Steve nahm solche Nachrichten mir wahrer Gelassenheit auf. Falls ihm das einen Schub für sein Ego gab, merkte man ihm das jedenfalls nie an. Seine beträchtlichen Talente schienen ihn eher verlegen zu machen und jegliches Lob wurde von ihm rigoros zurückgewiesen. (…)
Steve Evans brachte das, was er über das Recht gelernt hatte, allen Männern bei, die seiner Meinung nach genug Geduld hatten, es zu erlernen. Es gibt heute Dutzende von Leuten überall in Pennsylvania, die von ihm gelernt haben.
Das Problem war nur, dass Steve, so sehr er sich auch bemühte, mit seinem eigenen Fall nicht weiter kam. Das ist der Fluch der Knastanwälte. Sie scheinen allen helfen zu können außer sich selbst. In seinem eigenen Fall wegen schwerer Körperverletzung – Steve sagte, er habe auf einen Mann geschossen, der versuchte, ihn zu erschießen – konnte er kein neues Verfahren erreichen. Aber jenseits von Sieg oder Niederlage versuchte er weiter, ein gutes Ergebnis zu erreichen. Er kämpfte so lange und so hart wie er konnte.
Steve fand in seinem eigenen Fall nie den richtigen Dreh und saß die volle Haftstrafe ab. Als er sich schließlich darauf vorbereitete, das Huntingdon-Gefängnis zu verlassen, und ins Haus seiner geliebten Familie in Virginia zurückzukehren, legte man ihm einen längst vergessenen Haftbescheid auf Bundesebene vor – eine gerichtliche Anordnung, die nur eine Entlassung in Bundeshaft erlaubte – und verlegte ihn sofort in ein Bundesgefängnis , wo sein Kampf um Freiheit von vorn begann.
Aber es sollte nicht sein. Entmutigt durch die Wendung der Ereignisse, nach beinahe zehn Jahren im „Loch“, in dem er – wie er immer witzelte – rauchte „wie ein Cherokee“ und kaum mit frischer Luft oder Sonnenlicht in Berührung kam, starb Steve im Bundesgefängnis Lewisburg in Union County, Pennsylvania, nahe der Universität Bucknell, an Lungenkrebs.
In: Mumia Abu-Jamal: Jailhouse Lawyers – Knastanwälte, Strafgefangene im Kampf gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, Mit einem Vorwort von Angela Davis, Münster, 2013, Einleitung und Seite 35 ff.