Ein deutscher Kommunist

21. November 2023

Von Sebastian Schröder

Ilko-Sascha Kowalczuk hat den ersten Teil einer monumentalen Biografie zu Walter Ulbrich vorgelegt

Genau fünfzig Jahre nach dem Tod von Walter Ulbricht hat der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk den ersten Teil seiner monumentalen Ulbricht-Bio-grafie vorgelegt, versehen mit dem suggestiven Untertitel »Der deutsche Kommunist«. Kowalczuk schildert die Stationen des Lebens von Deutschlands bekanntestem und umstrittenstem linken Politiker, neben Erich Honecker, beginnend mit Elternhaus und Geburt bis zum 1. Mai 1945.

Geboren 1893 in Leipzig als Sohn eines Schneiders, ist Ulbricht ab 1907 engagiert in der Arbeiterjugendbewegung. Der gelernte Tischler muss dem verhassten Kaiserreich im Ersten Weltkrieg als Soldat dienen. Er ist in Leipzig an der Novemberrevolution beteiligt und wird ab 1919 aktiv für die KPD. Seitdem ist er als Funktionär zunächst in Leipzig und dann an vielen Orten in Deutschland sowie Europa aktiv. Die Geschichte der Weimarer Republik ist auch die Geschichte des Politikers Ulbricht: die Niederschlagung der Räte 1919 durch die Freikorps, der Kapp-Putsch 1920, der rechte Terror mit Ermordung von Matthias Erzberger 1921 und von Walther Rathenau 1922, das Katastrophenjahr 1923 mit Ruhrbesetzung, Hyperinflation, fehlgeschlagenem Oktoberaufstand der KPD und Hitler-Putsch. Die Stabilisierungsphase von 1924 bis 1929 endet mit der großen Depression, mit beispielloser Massenerwerbslosigkeit und der Kaltstellung des Reichstages durch die Notverordnungen. Der explosionsartige Aufstieg der NSDAP ab 1930 führt zu Straßenterror und Bürgerkrieg und zwingt die KPD in den direkten antifaschistischen Kampf gegen die SA. Als am 30. Januar 1933 mit der Machtübertragung an Hitler der Faschismus installiert wird, folgen Illegalität und Emigration, die Volksfront in Frankreich und der Bürgerkrieg in Spanien, die Abgründe der Schauprozesse, Massenverhaftungen und Hinrichtungen deutscher Kommunisten in der UdSSR, der Albtraum des Hitler-Stalin-Paktes und mit dem Überfall auf die Sowjetunion die antifaschistische Agitation unter den deutschen Kriegsgefangenen und die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland. Ab 1944 bereitet sich Ulbricht auf die Rückkehr in das besiegte Deutschland vor. »Aus einem führenden kommunistischen Funktionär (…) war in der Emigration der wichtigste deutsche Kommunist geworden.«

»Keine Intelligenz, machtmissbrauchend, hölzern, hinterhältig, angsteinflößend, keinerlei Dialogbereitschaft oder diplomatisches Geschick, alles war von Ideologie oder Worthülsen überlagert.« So formuliert Kowalczuk das Zerrbild Ulbrichts, das von seinen Gegnern gezeichnet wurde. Auf Wikipedia leben die feindseligen Zuschreibungen weiter: die »Fistelstimme mit sächsischem Zungenschlag, sein Mangel an rhetorischer Begabung und sein grundsätzlich misstrauischer Charakter«. Dagegen wirft Kowalczuk einen neutraleren Blick auf Ulbricht. Allerdings ist die angestrebte »Gesellschaftsgeschichte« nicht gelungen. So werden Ereignisse häufig nicht in ihrer Bedeutung klar. Wie soll etwa die »Sozialfaschismus-These« verstanden werden ohne die großen politischen Konflikte, an denen sich die Gegnerschaft zur SPD immer wieder entzündet, herauszuarbeiten? Der Autor verliert sich stattdessen in Details, und nur mit Vorwissen kann der geschichtliche Verlauf gesehen werden.

Natürlich war die Politik der KPD fest am Vorbild der Bolschewiki in Russland orientiert, mit allen Implikationen. Ulbricht war »als Moskauer in Berlin«. Zugleich waren in der KPD die konsequentesten Gegner der Rechten organisiert und dann der NSDAP. Deshalb kann ohne eine breite und tiefe Kontextualisierung kein ausgewogener Blick auf Ulbricht und die Politik der KPD geworfen werden. Dies leistet die Biografie nicht.

Als dünne theoretische Folie dient Kowalczuk eine einfache Skizze der Totalitarismustheorie, die sich überall im Buch verstreut findet. Etwa: »Der Leninismus ging wie auch der Faschismus (…) aus dem Marxismus hervor.«

Die Präsentation der vielen Quellen ist die Leistung des Buches. Aber der Autor kann die »Papierberge« nicht bändigen. Es werden unzählige Dokumente zitiert, und es werden sehr viele Personen erwähnt. So bleibt die Relevanz der Ereignisse häufig unklar, Entscheidendes wird nicht von Unwichtigem getrennt.

Im zweiten Band, der 2024 erscheint, wird Kowalczuk über den »kommunistischen Diktator« Ulbricht erzählen. Der erste Teil der Biografie ist die notwendige Vorarbeit dazu. Immer hat die Existenz der DDR die bundesrepublikanische Gesellschaft herausgefordert, und immer steht die Deutung der Geschichte der DDR in Wechselwirkung mit der Geschichte der BRD. Dann geht es auch um die Gegenwart.