Ein deutscher Kommunist

21. November 2023

Von Sebastian Schröder

Ilko-Sascha Kowalczuk hat den ersten Teil einer monumentalen Biografie zu Walter Ulbrich vorgelegt

Genau fünfzig Jahre nach dem Tod von Walter Ulbricht hat der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk den ersten Teil seiner monumentalen Ulbricht-Bio-grafie vorgelegt, versehen mit dem suggestiven Untertitel »Der deutsche Kommunist«. Kowalczuk schildert die Stationen des Lebens von Deutschlands bekanntestem und umstrittenstem linken Politiker, neben Erich Honecker, beginnend mit Elternhaus und Geburt bis zum 1. Mai 1945.

Geboren 1893 in Leipzig als Sohn eines Schneiders, ist Ulbricht ab 1907 engagiert in der Arbeiterjugendbewegung. Der gelernte Tischler muss dem verhassten Kaiserreich im Ersten Weltkrieg als Soldat dienen. Er ist in Leipzig an der Novemberrevolution beteiligt und wird ab 1919 aktiv für die KPD. Seitdem ist er als Funktionär zunächst in Leipzig und dann an vielen Orten in Deutschland sowie Europa aktiv. Die Geschichte der Weimarer Republik ist auch die Geschichte des Politikers Ulbricht: die Niederschlagung der Räte 1919 durch die Freikorps, der Kapp-Putsch 1920, der rechte Terror mit Ermordung von Matthias Erzberger 1921 und von Walther Rathenau 1922, das Katastrophenjahr 1923 mit Ruhrbesetzung, Hyperinflation, fehlgeschlagenem Oktoberaufstand der KPD und Hitler-Putsch. Die Stabilisierungsphase von 1924 bis 1929 endet mit der großen Depression, mit beispielloser Massenerwerbslosigkeit und der Kaltstellung des Reichstages durch die Notverordnungen. Der explosionsartige Aufstieg der NSDAP ab 1930 führt zu Straßenterror und Bürgerkrieg und zwingt die KPD in den direkten antifaschistischen Kampf gegen die SA. Als am 30. Januar 1933 mit der Machtübertragung an Hitler der Faschismus installiert wird, folgen Illegalität und Emigration, die Volksfront in Frankreich und der Bürgerkrieg in Spanien, die Abgründe der Schauprozesse, Massenverhaftungen und Hinrichtungen deutscher Kommunisten in der UdSSR, der Albtraum des Hitler-Stalin-Paktes und mit dem Überfall auf die Sowjetunion die antifaschistische Agitation unter den deutschen Kriegsgefangenen und die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland. Ab 1944 bereitet sich Ulbricht auf die Rückkehr in das besiegte Deutschland vor. »Aus einem führenden kommunistischen Funktionär (…) war in der Emigration der wichtigste deutsche Kommunist geworden.«

»Keine Intelligenz, machtmissbrauchend, hölzern, hinterhältig, angsteinflößend, keinerlei Dialogbereitschaft oder diplomatisches Geschick, alles war von Ideologie oder Worthülsen überlagert.« So formuliert Kowalczuk das Zerrbild Ulbrichts, das von seinen Gegnern gezeichnet wurde. Auf Wikipedia leben die feindseligen Zuschreibungen weiter: die »Fistelstimme mit sächsischem Zungenschlag, sein Mangel an rhetorischer Begabung und sein grundsätzlich misstrauischer Charakter«. Dagegen wirft Kowalczuk einen neutraleren Blick auf Ulbricht. Allerdings ist die angestrebte »Gesellschaftsgeschichte« nicht gelungen. So werden Ereignisse häufig nicht in ihrer Bedeutung klar. Wie soll etwa die »Sozialfaschismus-These« verstanden werden ohne die großen politischen Konflikte, an denen sich die Gegnerschaft zur SPD immer wieder entzündet, herauszuarbeiten? Der Autor verliert sich stattdessen in Details, und nur mit Vorwissen kann der geschichtliche Verlauf gesehen werden.

Natürlich war die Politik der KPD fest am Vorbild der Bolschewiki in Russland orientiert, mit allen Implikationen. Ulbricht war »als Moskauer in Berlin«. Zugleich waren in der KPD die konsequentesten Gegner der Rechten organisiert und dann der NSDAP. Deshalb kann ohne eine breite und tiefe Kontextualisierung kein ausgewogener Blick auf Ulbricht und die Politik der KPD geworfen werden. Dies leistet die Biografie nicht.

Als dünne theoretische Folie dient Kowalczuk eine einfache Skizze der Totalitarismustheorie, die sich überall im Buch verstreut findet. Etwa: »Der Leninismus ging wie auch der Faschismus (…) aus dem Marxismus hervor.«

Die Präsentation der vielen Quellen ist die Leistung des Buches. Aber der Autor kann die »Papierberge« nicht bändigen. Es werden unzählige Dokumente zitiert, und es werden sehr viele Personen erwähnt. So bleibt die Relevanz der Ereignisse häufig unklar, Entscheidendes wird nicht von Unwichtigem getrennt.

Im zweiten Band, der 2024 erscheint, wird Kowalczuk über den »kommunistischen Diktator« Ulbricht erzählen. Der erste Teil der Biografie ist die notwendige Vorarbeit dazu. Immer hat die Existenz der DDR die bundesrepublikanische Gesellschaft herausgefordert, und immer steht die Deutung der Geschichte der DDR in Wechselwirkung mit der Geschichte der BRD. Dann geht es auch um die Gegenwart.

VVN-BdA solidarisch mit den Opfern des antisemitischen Massakers

22. Oktober 2023

Warnung vor Gewaltspirale

10. Oktober 2023

Wir sind in tiefer Trauer über die vielen Toten der letzten Tage und die grauenhafte Gewalt, die diese Woche überschattet. 700 Frauen, Kinder und Männer wurden in ihren Wohnungen hingerichtet, entführt, vergewaltigt und durch die Straßen gezerrt. Wir verurteilen den Terror der islamistischen Hamas und den Antisemitismus, der sich in diesen Tagen – nicht nur im Nahen Osten – Bahn bricht. Wer die Gewalttaten der letzten Tage „feiert“, sich über den Tod hunderter Menschen freut und ihn als „Befreiung“ tituliert, stellt dadurch seine Menschenverachtung zur Schau. Wir sind in Gedanken bei allen Menschen in Israel und in Gaza, die bei Bombenangriffen getötet und verletzt wurden. Unsere Anteilnahme gilt auch jenen, deren Angehörige und Freund*innen sich derzeit in der Gewalt der Hamas befinden.

Als Vereinigung, die auch von jüdischen NS-Verfolgten gegründet wurde, möchten wir außerdem daran erinnern, dass noch heute circa 150.000 Menschen in Israel leben, die einst die Shoah überlebten und Zuflucht in Israel fanden. Wir hoffen, dass alle diese schreckliche Zeit überstehen.

Der vergangene Samstag war auch ein schwarzer Tag für alle, die sich im Nahen Osten für ein menschenwürdiges Leben für alle und gegen religiösen Fanatismus einsetzen. Die demokratische Zivilbewegung in Israel und ihr Protest gegen den Demokratieabbau im eigenen Land dürfte vorerst an ihr Ende gekommen sein.

Wir warnen vor der Gewaltspirale, die sowohl für die israelische als auch für die palästinensische Bevölkerung nur weitere Katastrophen bereithält und appellieren an die politischen Verantwortlichen, eine gewaltfreie Antwort auf den schrecklichen Terror zu finden. Gaza dem Erdboden gleichzumachen und dabei hunderte Zivilist*innen zu töten, bringt weiteres unvorstellbares Leid mit sich und befeuert die Gewaltspirale. Wir warnen auch vor rassistischen Reflexen, die arabische und palästinensische Menschen mit Antisemitismus gleichsetzen und von rechten Akteur*innen hier in Deutschland für ihre Zwecke missbraucht werden.

Zum Nachlesen: Unser Beschluss „Gegen jeden Antisemitismus“ von unserem Bundeskongress 2011.

Cornelia Kerth und Florian Gutsche, Bundesvorsitzende der VVN-BdA

Immer rechts

20. September 2023

Von Sebastian Schröder

Warum wir keinen VS brauchen: Ronen Steinkes Buch zum BRD-Geheimdienst

Der Jurist und Autor Ronen Steinke arbeitet als Journalist für die Süddeutsche Zeitung und recherchiert schon lange im Bereich der deutschen »Sicherheitspolitik«. Das vorliegende Buch ist eine Mischung aus aktuellen Reportagen und der Untersuchung der Geschichte, der Funktionsweise und der Bedeutung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) von 1949 bis heute. »Das Personal (…) hat sich innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre knapp verdoppelt. (…) Zugleich hat sich das Budget (…) innerhalb desselben Zeitraumes sogar verdreifacht.« Die Macht des Geheimdienstes sind die knapp 4.000 Hauptamtlichen, zu denen noch circa 3.700 Agent:innen in den 16 Landesämtern für Verfassungsschutz kommen.

Der VVN bestens bekannt

Die VVN kennt den VS schon aus vielen Auseinandersetzungen: »Heute beobachtet der Verfassungsschutz im Bund, in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg, Hessen und Bayern die Vereinigung noch immer. Seit 2005 informiert das Bundesamt allerdings schon nicht mehr in seinen jährlichen Verfassungsschutzberichten darüber. Das sei bei weniger wichtigen Gruppen nicht nötig.«

1959 hatte die Bundesregierung ein VVN-Verbotsverfahren wegen »Verfassungswidrigkeit« angestoßen, das 1962 ohne Erklärung nicht mehr weitergeführt wurde. Der Grund: Das Gericht und die Anklage wurden von den furchtbaren Juristen Dr. Fritz Werner und Dr. Hermann Reuß geführt, und die internationale Öffentlichkeit reagierte entsetzt auf deren Nazivergangenheit. Seit der Öffnung der VVN für junge Mitglieder zum Bund der Antifaschisten im Jahr 1971 fand ab 1973 eine Erwähnung im VS-Bericht statt. Die Mitgliedschaft in der VVN-BdA wurde damit für viele Jahre zum Grund für ein Berufsverbot. Steinke schildert auch die Enttarnung eines Spitzels in Bayern 2011, der über Jahre genauestens die Aktiven für den VS beobachtet hat. Ab 2019 folgte dann der Versuch des Entzugs der Gemeinnützigkeit, wieder mit der konstruierten Behauptung der Verfassungswidrigkeit der VVN-BdA.

Die Geschichte des VS zeigt, dieser war als Teil des Staatsapparates der BRD immer rechts, sei es unter liberalen oder unter konservativen Regierungen. Bezeichnend ist da die »Karriere« des SA-Mannes Hubert Schrübbers, der schon ab 1939 als NS-Staatsanwalt Widerstandskämpfer:innen verfolgte und von 1955 bis 1972 Präsident des BfV war. Bezeichnend auch die Rolle des VS beim sogenannten Radikalenerlass und der Durchsetzung der Berufsverbote ab Beginn der 1970er-Jahre. Nicht zu vergessen die Rolle der »Schlapphüte« hinsichtlich des NSU-Terrors: Die Morde unter den Augen des VS bleiben ungeklärt. Der damals zuständige Leiter des Verfassungsschutzamtes Thüringen, Helmut Roewer, publiziert jetzt in rechten Medien, genau wie Hans-Georg Maaßen, Chef des Bundesamtes von 2012 bis 2018.

Die Befugnisse des VS sind im Vergleich zu ähnlichen Institutionen in den USA, in Frankreich und Österreich einzigartig, denn die offene Ausspähung legaler Aktivitäten gibt es dort nicht. Zugleich unterliegt der VS kaum parlamentarischer Kontrolle; dafür ist die Behörde weisungsgebunden an Bundes- und Länderinnenministerien. »Vielleicht ist Björn Höcke nächstes Jahr schon Innenminister in Thüringen und damit Dienstherr des Verfassungsschutzes. Dann schauen wir mal …«, so ein AfD-Abgeordneter im Innenausschuss des Bundestages im Juni 2023.

Die Beobachtung und die Beeinflussung in den sozialen Medien durch systematisch aufgebaute Fake-Accounts, die Onlinedurchsuchungen sind moderne Methoden der Bespitzelung. Noch wichtiger und jahrzehntelang bewährt hat sich die Infiltration durch sogenannte V-Leute: »Es ist ein mächtiges, wirkungsvolles Instrument, das der Geheimdienst da in den Händen hält.«

Steinke fordert offen die Abschaffung des VS: »Wenn der Inlandsgeheimdienst gegen legale politische Aktivitäten spioniert, dann schädigt das die Demokratie. Wenn der Inlandsgeheimdienst gegen – mutmaßlich – illegale politische Aktivitäten spioniert, dann (…) unterläuft [dies] das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.«

Abschaffung eher unwahrscheinlich

Allerdings ist die Bedeutung des täglich erfassten Herrschaftswissens in Verbindung mit dem kontinuierlichen Wachstum enorm und macht es unwahrscheinlich, dass der Verfassungsschutz wirklich abgeschafft wird. Unter Thomas Haldenwang ist der VS mächtiger als je zuvor.

Der liberale Jurist und Journalist Ronen Steinke hat ein wichtiges Sachbuch geschrieben. Alles, was wir über den Verfassungsschutz wissen müssen, finden wir darin. Er zeichnet ein realistisches Gesamtbild dieses Geheimdienstes und ermöglicht zugleich die Rehabilitierung der früheren Opfer der Überwachung als auch der heutigen. Dazu zählen neben der VVN viele andere Organisationen, Personen und Medien. Und die faschistische AfD? Für die VVN ist klar, dass die Partei mit politischen Mitteln bekämpft werden muss. Dieser »Politik-Beobachtungs-Geheimdienst« kann das nicht!

Unbeschwert in Zwickau

30. Juli 2023

Von Sebastian Schröder

»Wenn du hier politisch wirst, ändert sich alles«: Zu »Unter Nazis«

Im sächsischen Zwickau fährt ein Bus der städtischen Verkehrsbetriebe mit einem roten Eisernen Kreuz auf schwarzem Hintergrund. Dieser Bus macht stadtweit Werbung für das Tattoo-Studio eines bekannten Zwickauer Rechten, der auf Fotos schwer bewaffnet posiert und auch die Motive »Schwarze Sonne«, der »Rote Baron« und Wehrmachtssoldaten anbietet.

Jakob Springfeld, 21-jähriger Autor von »Unter Nazis – jung, ostdeutsch, gegen rechts« ist in Zwickau geboren und aufgewachsen. Er kennt das Haus in der Frühlingsstraße, in dem elf Jahre lang das NSU-Trio gewohnt und seine Gewalttaten vorbereitet hat, das Haus, das Beate Zschäpe am 4. November 2011 gesprengt hat. Das Trauma des NSU-Terrorismus ist mit seiner Kindheit und seiner Heimatstadt verbunden. In Zwickau herrschte lange bleiernes Schweigen zum NSU-Netzwerk nebenan, erst seit 2016 gibt es ein Gedenken an die Opfer des Naziterrors, aber auch die wiederholte Zerstörung dieser Gedenkorte durch Nazis – das oft geforderte Zwickauer NSU-Bildungs- und Dokumentationszentrum, das nationale Bedeutung wegen nationaler Verantwortung hat, gibt es immer noch nicht!

Geboren in ein christliches Elternhaus, zählt Jakob Springfeld seine Familie zu den Wendegewinnern, bleibt verschont von Armut und Erwerbslosigkeit. Klar sieht er, dass er privilegiert ist: »Wenn du weiß, männlich und unpolitisch bist, kannst du ein schönes, unbeschwertes Leben führen in Zwickau.« Mit dem Anstieg der Zahl an Geflüchteten im Jahr 2015 beginnt sich Jakob Springfeld zu engagieren und zu politisieren, er wird stadtbekannter Klima-Aktivist und Antifaschist.

Der Hass der Rechten gegen Minderheiten, Punks, Zugewanderte und Andersdenkende trifft ihn ziemlich bald. Gewalt unterwegs, direkte Drohungen gegen ihn und seine Familie in der Stadt, dann bespuckt, geschubst, vor dem eigenen Zuhause bedrängt: »Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremen war nicht mehr eine abstrakte Erzählung aus Schulbüchern. Sie wurde persönlich. Für mich verging seither kaum ein Tag, an dem ich mich nicht fragte, ob dies ein Tag sein würde, an dem meine Freund*innen oder ich selbst angefeindet oder bedroht werden.«

Und sein neuer Blick auf die politische Wirklichkeit in Zwickau ändert wirklich alles. Am verehrten Musiklehrer seiner Kindheit wird im Rückblick der rechte Habitus sichtbar, heute ist sein damaliges Vorbild im »Querdenker«-Milieu aktiv. »Früher habe ich mir nichts dabei gedacht, wenn mein Trompetenlehrer darüber klagte, dass zuwenig Volkslieder gespielt würden. Jetzt glaube ich zu erkennen, wie alles zusammenhängt.«

Vor und im deutschen Faschismus waren in Zwickau, wie nahezu überall in Deutschland, die Nazis in der Mehrheit. Im Terror der sogenannten Baseballschlägerjahre nach 1990 wurde der 17jährige Patrick Thürmer 1999 in Zwickau ermordet. Jakob Springfeld und sein Co-Autor Issio Ehrich sehen die Gründe für die eindeutige Stärke der Nachwende-Nazis in den Strukturen der DDR angelegt. Sie beziehen sich dabei auf umstrittene Wissenschaftler wie Uwe Backes. Hier liegt Springfeld, Träger der Theodor-Heuss-Medaille, falsch.

Die BRD war eine postfaschistische Gesellschaft, der Schutz der Täter:innen vor gerechtfertigter Verfolgung war Ziel gemeinsamer Bemühungen: »Nach dem alten Strafgesetzbuch Deutschlands von 1871 verjähren Verbrechen nach zwanzig Jahren. Die unbelehrbaren Anhänger der Nazis hofften, dass damit im Jahre 1965 die Verjährungsfrist für NS-Verbrechen abgelaufen war und Verfolgungen deswegen nicht mehr stattfinden würden. Diese Gefahr einer Amnestierung aller Bluttaten der Nazis hat das Präsidium der VVN (…) veranlasst, Alarm zu schlagen.« So beschreibt Karl Sauer die Situation in der BRD 1972 für die VVN. In der DDR war aber das antifaschistische Gedenken, mit allen seinen Fehlern, präsent.

In jeder Woche liest Jakob Springfeld in Deutschland aus seinem Buch, bei Dutzenden von Lesereisen hat er Präsenz gezeigt, aufgeklärt und Fragen beantwortet. Der Autor berichtet konkret über aktive Nazis, ihre Netzwerke und ihre Taten in Zwickau. Deshalb ist »Unter Nazis – jung, ostdeutsch, gegen rechts« nicht nur ein Buch, es ist mutiger Antifa-Aktivismus. Und so heißt es dort auch: »Ich möchte für die Zukunft meiner Generation kämpfen und klarmachen, dass es überall Verbündete dafür gibt, selbst an Orten wie Zwickau. Das Handeln für eine friedvolle, tolerante, antifaschistische Gesellschaft ist für mich eine logische Konsequenz aus den Krisen unserer Generation. Krisen, die wir nur gemeinsam bekämpfen können.«

Aus dem Archiv: Verleihen Sie als Oberbürgermeister dem Friedenswillen der Wuppertalerinnen und Wuppertaler Ausdruck!

8. Juli 2023

Wuppertal, 10. Oktober 2016

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Mucke

Seit 1986 ist die Oberbürgermeisterin beziehungsweise der Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal als Mitglied in der Kampagne Mayors for Peace – Bürgermeister für den Frieden aktiv.

Diese Friedensinitiative vereint über 7000 BürgermeisterInnen auf der ganzen Welt mit dem Ziel, Atomwaffen zu achten und internationale Abrüstung durch eine Nuklearwaffenkonvention zu erreichen. http://www.mayorsforpeace.de

Auch der Oberbürgermeister unserer Nachbarstadt und Landeshauptstadt Düsseldorf, Thomas Geisel, hat sich am 8. Juli 2016, am grossen internationalen Flaggentag, die Friedensfahne der Bürgermeister für den Frieden hissen lassen (siehe Anlage „Aktiv gegen Atomwaffen“, in: Informationen 157 / 2016-3, herausgegeben von Ohne Rüstung leben)

Leider wurde von Ihnen 2016 weder das Jubiläum der dreißigjährigen Mitgliedschaft Wuppertals begangen, noch haben Sie sich am internationalen Flaggentag 2016 beteiligt.

Die VVN-BdA Wuppertal – als Teil der Friedensbewegung – bedauert beide Versäumnisse sehr und möchte Sie hiermit auffordern, ab sofort Anteil an dieser wichtigen Kampagne zu nehemen. Verleihen Sie als Oberbürgermeister dem Friedenswillen der Wuppertalerinnen und Wwuppertaler Ausdruck!

Mit freundlichen Grüßen

»Dies kann nicht weiter verfolgt werden«

2. Juli 2023

Skandal um neues Konzept für Wuppertaler KZ-Gedenkort Kemna. Gespräch mit Sebastian Schröder

Erschienen in junge Welt, 28. Juni 2023

Von Henning von Stoltzenberg

In Wuppertal und darüber hinaus ist eine Debatte über den Gedenkort Kemna entstanden. Was ist dort während der Herrschaft der deutschen Faschisten geschehen?

Im Juli 1933 wurde in einem Randbezirk Wuppertals das KZ Kemna eingerichtet, initiiert von Willi Veller, dem zum Wuppertaler Polizeipräsidenten gemachten SA-Schläger und Mörder. Das Lager wurde von der SA betrieben und diente der massenhaften Internierung von Antifaschisten aus der Arbeiterbewegung aus dem Bergischen Land und darüber hinaus. Im Januar 1934 wurde da KZ Kemna geschlossen. Konstitutiv war die systematische Folter der circa 2.500 bis 3.000 Gefangenen durch die Wachmannschaft. 25 Suizidversuche sind überliefert. Massive und breite Gewalt sollte die Kraft der Arbeiterbewegung schnell brechen.

Wem hat das Gelände seit Kriegsende gehört, und wer hat sich darum gekümmert?

Es war bis 2019 immer in kommerzieller Nutzung, die Gedenkstätte befindet sich seit 1983 auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Am Gebäude konnten keine Schilder oder ähnliches angebracht werden, allerdings haben einige Eigentümer den Zugang zum Gelände für Gedenkfeiern erlaubt. Seit 2019 ist die evangelische Kirche Eigentümerin.

Sie sprechen von einem seit jeher umkämpften Gedenken. Wie meinen Sie das?

Karl Ibach und Willi Spicher waren zwei Mitbegründer der VVN in Wuppertal und Kemna-Häftlinge, wie viele spätere VVN-Mitglieder. Ibach hat zudem 1948 das in großer Auflage erschienene Buch zum Prozess gegen die Wachmannschaft geschrieben. Dies war der erste KZ-Prozess überhaupt nach der Befreiung. Es ist klar, dass eine Gedenkinitiative, die von der als kommunistisch markierten VVN gestützt wird, in der Adenauer-BRD bekämpft wurde. Und so wurde die Kemna-Gedenkstätte 1964 auf einem zentralen Denkmal in Frankfurt am Main genannt, aber erst 1973 in Wuppertal selbst.

1983, 50 Jahre nach der Lagereröffnung, wurde der große Gedenkort neben der Fabrik fertiggestellt. Die Gründe dafür waren zum einen die harsche Ablehnung einer Würdigung des linken Widerstandes in Westdeutschland, zum anderen das Schweigen der bürgerlichen Kreise zum Wuppertaler KZ. Dabei handelte es sich um wohlwollendes Schweigen, nicht um ängstliches. Und es gab auch Zustimmung: Aus den Reihen der faschistischen »Deutschen Christen« waren sogenannte Missionare in dem Lager, um die Häftlinge zu »bekehren«.

Geschichtsstudenten der Bergischen Universität haben unter Leitung von Ulrike Schrader, Leiterin der Wuppertaler Begegnungsstätte »Alte Synagoge«, Mitte Juni ein Konzept zur Gestaltung einer Gedenkstätte auf dem Gelände und im Gebäude des KZ vorgestellt. Was kritisieren Sie daran?

Bei der Präsentation wurden von Studierenden und Frau Schrader krude Aussagen über Täter und Opfer in dem KZ Kemna gemacht, die die Westdeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 16. Juni dokumentierte. Aussagen wie »die Grenzen seien schwammig«, »rund 80 Prozent der Häftlinge waren Kommunisten und damit auch Gegner der Weimarer Republik, also der Demokratie« und »eine weiße Weste habe deshalb keiner, man wolle niemanden zum Helden machen oder eine Vorbildfunktion geben, die er nicht hat.« Zu Recht hat sich daraus eine große Debatte entwickelt. Die Vorschläge zur Gestaltung sind deshalb bisher noch nicht diskutiert worden, allerdings sind gestalterische Elemente wie »Hördusche«, »drehbare, lebensgroße Würfelkomplexe« und ein »Stangenwald mit Stangen unterschiedlicher Länge als Symbol für die Individualität der Häftlinge« genannt. Der evangelische Kirchenkreis hat sich von den Aussagen bei der Präsentation distanziert und die alleinige Verantwortlichkeit für alle Phasen der Gedenkstättenplanung hervorgehoben.

Wie müsste Ihrer Meinung nach ein würdevolles Gedenken statt dessen aussehen?

Es ist klar, dass die von den Studierenden genannten Vorschläge nicht zu einer ernsthaften Beschäftigung mit Folter und Gewalt in der Kemna-Gedenkstätte beitragen können. Dies kann nicht weiter verfolgt werden. Die entscheidende Frage ist, wie nach diesem Skandal von der evangelischen Kirche ein vertrauensvoller Prozess in Gang gebracht werden kann, an dessen Ende ein ehrendes und mahnendes Gedenken auf objektiver Grundlage steht. Denn das KZ ist ein faschistischer Tatort von nationaler Bedeutung und unbedingter Teil der deutschen Geschichte.

https://www.jungewelt.de/artikel/453669.kz-gedenken-in-wuppertal-dies-kann-nicht-weiter-verfolgt-werden.html?sstr=kemna

Konzentrationslager Kemna in Wuppertal – ein würdiger Ort des Gedenkens?

24. Juni 2023

Pressemitteilung der VVN-BdA Wuppertal vom 24. 6. 2023

Am 9. Juli 2023 versammeln sich zum 40. Mal Antifaschist:innen am Mahnmal gegenüber der alten Putzwollfabrik, um an das Konzentrationslager Kemna zu erinnern.

Eines der ersten Konzentrationslager im faschistischen Deutschland wurde im Juli 1933 in Wuppertal-Beyenburg errichtet. Die Grausamkeit der Täter, die kaum vorstellbare Qual der Folter, darum wissen die Menschen im Bergischen Land. Und sie wissen, dass fast alle der 2500 bis 3000 eingesperrten Männer aus der Arbeiter:innenbewegung kamen.

Die Kemna war schon immer ein umkämpftes Gedenken, und erst 1983 wurde ein Gedenkort geschaffen. Noch nie lag dort ein Kranz der CDU zum jährlichen Mahnen.

In stiller Sorge haben viele Bürger:innen auf die Kemna geschaut, seit die evangelische Kirche 2018 Eigentümerin des Fabrikgeländes geworden ist. Leider haben sich die unausgesprochenen Befürchtungen bestätigt.

Die von Studierenden des Fachs Geschichte der Bergischen Universität entwickelte Konzeption zur Gestaltung einer Gedenkstätte auf dem Gelände und im Gebäude des KZ wurde vor kurzem der Öffentlichkeit vorgestellt. Bei der Präsentation werden die Studierenden und Frau Dr. Schrader, die Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge in der Westdeutschen Zeitung vom 16. Juli 2023 wie folgt zitiert: „Die Einteilung in Opfer und Täter versuchen sie [die Studierenden] jedoch zu vermeiden. Denn die Grenzen seien schwammig. „Natürlich hat niemand dieses Leid verdient“, sagt Studentin Dana Thiele. Doch wurden auch Täter zu Opfern und umgekehrt. „Rund 80 Prozent der Häftlinge waren Kommunisten und damit auch Gegner der Weimarer Republik, also der Demokratie“, führt Ulrike Schrader aus. Eine weiße Weste habe deshalb keiner, man wolle niemanden zum Helden machen oder eine Vorbildfunktion geben, die er nicht hat.“

Die VVN-BdA Wuppertal ist entsetzt über diese Ausagen!

Nirgendwo sind Täter und Opfer so klar voneinander geschieden wie in der Folterhölle der Kemna. Die einen üben die Gewalt aus, die anderen erleiden sie. Die Unterdrückung ist konkret und zielt auf die direkte Zerstörung des politischen Gegners.

Haben die zukünftigen Historiker:innen denn die vielen Berichte nicht gelesen!?

Um der historischen Wahrheit gerecht zu werden, fordert die VVN-BdA Wuppertal die Studierenden auf: Belegen Sie ihre Aussage „Doch wurden auch Täter zu Opfern und umgekehrt.“ nach wissenschaftlichen Standards!

In Frau Dr. Schraders Äußerungen lebt die herrschemde Tradition der BRD wieder auf, alles zur Diffamierung des linken Widerstands zu tun.

Während die zukünftigen Akademiker:innen die Täter-Opfer-Umkehr anwenden, macht Frau Schrader die Antifaschisten, diejenigen, die gerade im Kampf mit den Faschisten das Schlimmste erleiden, zu Feinden der Demokratie! Dabei ist dieser Kampf gegen den Faschismus ja das stärkste Eintreten für die Demokratie.

Im September 1933 erhält der Preussenprinz und das aktive SA-Mitglied „Auwi“ die Ehrenbürgerwürde der Stadt Wuppertal. Er hat als berühmtestes Mitglied der Familie der Hohenzollern und Sohn des Kaisers maßgeblich dafür gesorgt, im Adel das Ansehen der NSDAP zu erhöhen, er ist ein wichtiger Wegbereiter der Nazi-Diktatur. Während „Auwi“ für die Verleihung der Ehrenbürgerwürde in Wuppertal zu Gast ist, macht er einen Besuch in der Kemna, lässt sich das Gebäude und die Gefangenen vorführen und bekommt einen Strauß Blumen überreicht. Frau Dr. Schrader, das waren die Gegner und Zerstörer der Weimarer Republik, und das sind auch heute die Feinde unserer Demokratie! Prinz „Auwi“ ist übrigens immer noch Täger der Ehrenbürgerwürde der Stadt Wuppertal…

Doch der Skandal ist noch grösser. Die evangelische Kirche hat sich sofort 1933 bemüht, privilegierten Zugang zu den neuen Konzentrationslagern zu bekommen. Sogenannte Seelsorger sollten die Häftlinge missionieren. In der Kemna wurden regelmäßig evangelische Gottesdienste abgehalten, Hilfe vor der Gewalt der Wärter konnten die Gefolterten vom Pfarrer allerdings nicht erwarten. Am Heiligabend 1933 gab es stattdessen eine Weihnachtsfeier mit Kerzen und Tannenbaum, Gesang und einem Posaunenkonzert des CVJM.

Jetzt ist klar, dass die Täter-Opfer-Umkehr und die Diffamierung der Inhaftierten durch Frau Dr. Schrader und die Studierenden dazu dient, diese Schuld der evangelischen Kirche selbst unsichtbar zu machen. Denn die evanglische Kirche war als rechter Akteur, als wichtiges deutschnationales Milieu selbst Feind der Weimarer Demokratie und Anhänger des Autoritarismus.

Johannes Rau spricht es 2005 offen aus: „Der Ort, an dem man sich 1934 versammelte [Bekennende Kirche], liegt Luftlinie etwa drei Kilometer vom Konzentrationslager Kemna , zwischen Beyenburg und Oberbarmen. Die in Barmen Versammelten haben dazu keine Worte gefunden. Weil es sich zunächst nur um politische Gefangene, Arbeiter, Kommunisten und politische Dissidenten handelte?“

Die VVN-BdA Wuppertal erwartet eine Entschuldigung bei den Familien der Opfern durch die evangelische Kirche.

Die VVN-BdA Wuppertal fragt:

Wie kann die Öffentlichkeit jetzt noch Vertrauen in die Konzeption des zukünftigen Gedenkort Kemna haben?

Wie soll das Vertrauen in die objektive Darstellung der Geschichte der Kemna wiedergewonnen werden?

Wie soll eine antifaschistische Zusammenarbeit in Zukunft möglich sein?

Diese Fragen müssen von der evangelischen Kirche beantwortet werden!

Umkämpftes Feld

21. Mai 2023

geschrieben von Sebastian Schröder

»Iftach el bab!« (»Tür auf!«): Meron Mendels Buch »Über Israel reden«

Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, hat mit »Über Israel reden. Eine deutsche Debatte« einen gewichtigen Beitrag zu eben dieser Diskussion vorgelegt. Der israelisch-deutsche Historiker und Pädagoge hat das Ziel, ein »Plädoyer für Versachlichung und Differenzierung in einem umkämpften Feld, in dem sich Geschichte und Gegenwart sowie Real- und Moralpolitik vermischen« zu formulieren. Leider wird er diesem Anspruch nur in zwei von vier Kapiteln gerecht.

Aufgewachsen in Israel in einem Kibbuz, war er als junger Mensch in der israelischen Friedensbewegung aktiv und meinte, wie viele in den 1990er-Jahren, im Osloer Friedensabkommen das Ende des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern zu sehen. Mit der Ermordung Yitzchak Rabins durch einen rechten Terroristen 1995 endete die Periode der Annäherung.

Mit 18 Jahren hat Mendel seinen Militärdienst als Soldat der Besatzungsarmee in der Stadt Hebron absolviert. »Iftach el bab!« (»Tür auf!«) sind die arabischen Worte, die sowohl seine Armeezeit als auch den Charakter der Besatzung insgesamt beschreiben.

Mendel formuliert den entscheidenden Unterschied in der Beurteilung des Feldes Antisemitismus und Israelkritik: »Zwischen Israelis und Palästinensern gab und gibt es einen realen, handfesten Konflikt – zwischen Juden und Deutschen jedoch nie.« Diese Unterscheidung ermöglicht es ihm, viele im deutschen Diskurs tabuisierte Tatsachen auszusprechen.

Er untersucht im ersten von vier Kapiteln die Geschichte des Verhältnisses der Bundesrepublik zu Israel und kann zeigen, dass von beiden Seiten immer der Vorteil für die eigenen politischen Interessen gesucht wurde. Während Israel einen wohlhabenden, wiedererstarkenden Verbündeten sucht, nutzt die BRD die finanzielle Wiedergutmachung zur kollektiven Reinwaschung von der Schuld des Holocaust, um international wieder agieren zu können. Wie mit der zur »Staatsräson« veredelten deutschen Verantwortung für »Israels Sicherheit« umzugehen ist, wenn dort die extreme Rechte an der Macht ist, fragt Mendel.

Im zweiten Kapitel werden die aktuellen Auseinandersetzungen betrachtet: Im Streit um die Kampagne »Boycott, Divestment and Sanctions« (BDS) haben sich endgültig zwei Lager gebildet. »In der einen Ecke: die bedingungslosen anti-antisemitischen Israel-Groupies, die Israel nur als Land der Holocaust-Überlebenden sehen. In der anderen Ecke: die eingefleischten, postkolonialen Palästina-Ultras, die in Israel einen Kolonialstaat imaginieren, einen westlichen Fremdkörper in Nahost.« Zwei gegensätzliche Definitionen von Antisemitismus, öffentliche Diffamierungen und Kündigungen von palästinensischen Menschen in Deutschland (wie der Fall der im Jahr 2021 abgesetzten WDR-Journalistin Nemi El-Hassan), der ablehnende Bundestagsbeschluss zu BDS 2019, öffentliche Boykottaufrufe auch gegen Mendel und die Bildungsstätte Anne Frank, der Rücktritt des Direktors des Jüdischen Museums Berlin, die Debatte um Achille Mbembe, die antisemitischen Bilder auf der Documenta fifteen – das sind die Stationen des Konfliktes um die BDS-Kampagne in Deutschland. Mendel weist darauf hin, dass diese Kampagne, die er ablehnt, eben nicht, wie regelmäßig behauptet, antisemitisch sei. »Das Schlagwort BDS wird oft nur gerufen, um alle Formen von Boykott als antisemitisch zu brandmarken.«

Jetzt nimmt das Buch, das bisher wirklich zu einer Versachlichung der Debatte beigetragen hat, eine andere Richtung. Im vierten Kapitel zur Erinnerungskultur und zum Neuen Historikerstreit schlägt sich Mendel eindeutig auf eine der beiden Seiten. Er spricht sich für die Singularitätsthese aus und wird nun Teil des Streites, ohne dass von ihm neue Erkenntnisse, Perspektiven oder ähnliches präsentiert werden.

Die Geschichte der positiven oder negativen Positionierung zu Israel von links schildert er im dritten Kapitel anhand des Gegensatzes zwischen antiimperialistischen und antideutschen Gruppen, später werden auch die postkoloniale und die LGBTQ-Bewegung kritisiert. Da Mendel jetzt selbst antisemitische und antiisraelische Argumente vermischt, wird die Beurteilung der genannten Vorfälle und Veröffentlichungen für die Lesenden schwierig. Es bleibt eine Leerstelle. Wo sind die linken deutsch-jüdischen Menschen, wo ist etwa Rolf Verleger? Seine Auseinandersetzung mit dem Zentralrat der Juden über die israelische Politik enthält alles, was auch die aktuelle Debatte bestimmt.

Dies verhandelt Mendel unter »Jüdisch-israelische Kronzeugen«. Er übernimmt die Argumente zweier deutscher Soziologen, die behaupten: »Die Verwendung (vermeintlicher) jüdischer Kronzeug*innen als ›gute Juden‹ ist seit alters her vielfach geübte Praxis der Antisemit*innen.«

Peter Gingold, Kurt Goldstein und Esther Bejarano als Stichwortgeber antiisraelischer Deutscher? Das kann so nicht stimmen. Mendels Buch enthält beides: viele sachliche Argumente, aber immer auch die ausschließende Gegenposition.

Rede zum 8. Mai 2023 auf dem Friedhof Norrenberg

8. Mai 2023

Von Sebastian Schröder, Kreissprecher der VVN-BdA Wuppertal

Sehr geehrte Damen und Herren

Zum 38. Mal stehen wir am 8. Mai an den Gräbern der im Wuppertaler Osten ermordeten sowjetischen und polnischen Zwangsarbeiter:innen.

Wir trauern.

Aber wir mahnen auch.

Das Berufsinformationszentrum BIZ Wuppertal lädt die Bundeswehr in drei Tagen, am 11. Mai 2023, ein, um mit harmloser Sprache junge Menschen für den Dienst in der deutschen Armee zu gewinnen. Die Bundeswehr ist eine der wenige Armeen, die Minderjährige anwirbt. Die Friedensbewegung stellt die Parole „Kein Werben fürs Sterben“ dagegen. Auch die VVN-BdA Wuppertal lehnt die Anwerbung 17-Jähriger Menschen für den direkten und indirekten Kriegseinsatz ab!

Für welche Armee würden sich die jungen Menschen zum Töten und Sterben verpflichten?

Die Bundeswehr trägt mit unverhohlenem Stolz das sogenannte Eiserne Kreuz als Hoheitszeichen. Einige der zentralen Erzählungen des deutschnationalen Weltbildes werden durch diesen Orden symbolisiert.

Der offene Bezug auf die Traditionen des preussischen und wilhelminischen Militarismus finden sich 2023 nicht nur im sogenannten Eisernen Kreuz.

Das Wachbatallion der Bundeswehr ist der bekannteste Truppenteil der Bundeswehr. Diese Soldat:innen sind prominent, weil sie bei allen Staatsempfängen repräsentieren, bei Gelöbnissen auftreten und auch die sogenannten Zapfenstreiche durchführen. Der unmittelbare Schutz der Bundesregierung ist ihre zentrale militärische Aufgabe.

Das Wachbatallion bezieht sich in vielen Dingen auf die Zeit vor dem 8. Mai 1945. So wird bei den Vorführungen das berüchtigte deutsche Gewehr benutzt, das sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg im Einsatz war. Beim Zapfenstreich werden dunkle Stahlhelme, Mäntel und Stiefel in Art der Wehrmacht getragen. Fackeln gehören zur Inszenierung, die altbekannten Befehle wie „Helm ab zum Gebet!“ gellen über die Plätze. Das Wachbatallion ist schon lange zu hören bevor es erscheint, denn sie treten mit der alten Marschmusik auf.

Nicht nur das Auftreten und die Ausrüstung, auch das Abzeichen kommt aus der Vergangenheit. Es ist der Buchstabe W in gotischer Schreibweise. Und die Ahnenreihe, in der sich das Wachbatallion der Bundeswehr sieht, geht auf das preussische Militär zu Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Als Truppenteil zum Schutz der preussischen Könige eingesetzt, gilt das sogenannte 1. Garde-Regiment zu Fuß als Vorläufer. Alle preussischen Prinzen wurden hier ab dem Alter von 10 Jahren zu Soldaten gedrillt, auch weil die sogenannte Garde immer direkt neben dem Herrscherhaus stationiert war. Das Wachbatallion sieht sich sogar in der bis 1675 zurückführenden Linie des preussischen Militärs, der sogenanten „Langen Kerls“. Seitdem wird das Motto „Semper talis“ verwendet, bis heute.

Wir wissen, wofür die preussische Armee, das kaiserliche Heer, für 12 Jahre Reichswehr und dann ab 1935 Wehrmacht steht:

für eine autitäre und obrigkeitshörige Gesellschaft, für Militarismus; Aufrüstung und dann natürlich auch für Aggression und Krieg. Das Feldgrau der deutschen Armee bis 1945 steht gegen Demokratie und Zukuft. Im Feldgrau lebt die schlechte deutsche Vergangenheit.

Wir bitten, die Video-Beiträge auf den beiden Accounts auf Instagramm mit den Namen „Bundeswehr“ und „Bundeswehr Exkusive“ anzuschauen. Im Internet kann Jede/r sehen, wie die Bundeswehr ist.

Kurt Tucholsky: Drei Minuten Gehör (1922)

Drei Minuten Gehör will ich von euch, die ihr arbeitet -!

———————————

Von euch, die ihr den Hammer schwingt,

von euch, die ihr auf Krücken hinkt,

von euch, die ihr die Feder führt,

von euch, die ihr die Kessel schürt,

von euch, die mit den treuen Händen

dem Manne ihre Liebe spenden –

von euch, den Jungen und den Alten -:

Ihr sollt drei Minuten innehalten.

Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern.

Wir wollen uns einmal erinnern.

———————————–

Die erste Minute gehört dem Mann.

Wer trat vor Jahren in Feldgrau an?

Zu Hause die Kinder – zu Hause weint Mutter …

Ihr: feldgraues Kanonenfutter -!

Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben.

Da saht ihr keinen Fürstenknaben:

der soff sich einen in der Etappe

und ging mit den Damen in die Klappe.

Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt.

Wart ihr noch Gottes Ebenbild?

In der Kaserne – im Schilderhaus

wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus.

Der Offizier war eine Perle,

aber ihr wart nur „Kerle“!

Ein elender Schieß- und Grüßautomat.

„Sie Schwein! Hände an die Hosennaht -!“

Verwundete mochten sich krümmen und biegen:

kam ein Prinz, dann hattet ihr stramm zu liegen.

Und noch im Massengrab wart ihr die Schweine:

Die Offiziere lagen alleine!

Ihr wart des Todes billige Ware …

so ging das vier lange blutige Jahre.

Erinnert ihr euch?

———————————-

Die zweite Minute gehöre der Frau.

Wem wurden zu Haus die Haare grau?

Wer schreckte, wenn der Tag vorbei,

in den Nächten auf mit einem Schrei?

Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen,

der anstatt in langen Polonaisen,

indessen Prinzessinnen und ihre Gatten,

alles, alles, alles hatten – – ?

Wem schrieben sie einen kurzen Brief,

daß wieder einer in Flandern schlief?

Dazu ein Formular mit zwei Zetteln …

wer mußte hier um die Rente betteln?

Tränen und Krämpfe und wildes Schrein.

Er hatte Ruhe. Ihr wart allein.

Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel,

euch in die Arme zurück als Krüppel.

So sah sie aus, die wunderbare

große Zeit – vier lange Jahre …

Erinnert ihr euch -?

—————————————–

Die dritte Minute gehört den Jungen!

Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen!

Ihr wart noch frei, Ihr seid heute frei!

Sorgt dafür, daß es immer so sei!

An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertraun

Von Millionen deutschen Männern und Fraun.

I h r sollt nicht stramm stehn. I h r sollt nicht dienen!

Ihr sollt frei sein! Zeigt es ihnen!

Und wenn sie euch kommen und drohn mit Pistolen -:

Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen!

K e i n e Wehrpflicht! K e i n e Soldaten!

K e i n e Monokel-Potentaten!

K e i n e Orden! K e i n e Spaliere!

K e i n e Reserveoffiziere!

Ihr seid die Zukunft!

——————————————–Euer das Land!

Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!

Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!

Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei

Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg -!

Nie wieder Krieg !

Gedichte gegen den Krieg, herausgegeben von Kurt Faßmann, München 1961, Seite 122 ff.

Geburtstagsveranstaltung für Wolfgang Abendroth (1906-1985)

8. April 2023

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes –
Bund der Antifaschisten und Antifaschistinnen
Kreisvereinigung Wuppertal

Geburtstagsveranstaltung
für Wolfgang Abendroth
(1906-1985)
Dienstag, 2. Mai 2023
19.00 Uhr

Alte Feuerwache, Gathe 6
42107 Wuppertal-Elberfeld
Der Eintritt ist frei.
Wir begrüßen an diesem Abend ganz herzlich:
Elisabeth Abendroth die Tochter von Wolfgang und Lisa Abendroth
Sie wird aus dem Leben der Familie Abendroth und natürlich aus dem wissen-
schaftlichen und politisch kämpferischen Leben ihres Vaters als Widerstandskämp-
fer gegen die Nazis berichten.
Und wir begrüßen
Prof. Dr. Georg Fülberth Marburg,
dessen wissenschaftliches und politisches Leben eng mit der „Marburger Schule“
verbunden ist. Wir haben ihn bereits in zahlreichen Veranstaltungen in Wuppertal
erleben können.
Moderation:
Dirk Krüger (Sprecher der VVN-BdA Kreisvereinigung Wuppertal)

Eine Veranstaltung von VVN-BdA, Landesvereinigung Nordrhein-Westfalen und VVN-BdA Kreisvereinigung Wuppertal.
Sie wird unterstützt von VVN-BdA Kreisvereinigung Düsseldorf, Freidenker Wuppertal e.V., NATURFREUNDE DEUTSCHLANDS, Ortsgruppe Wuppertal e.V., SDAJ Gruppe Wuppertal, SDS Wuppertal, Humanistischer Verband – Gemeinschaft Wuppertal/Bergisches Land
VVN-BdA Wuppertal, c/o Dirk Krüger, Zietenstraße 25, 42281 Wuppertal, Mail: krueger.wtal.de

Eine (unvollständige) biografische Skizze zu
Wolfgang Abendroth
Wir ehren mit der Veranstaltung einen Politischen Wis-
senschaftler, einen Sozialisten, einen Demokraten und
„einflussreichen Außenseiter“. Habermas verlieh ihm
den Titel „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer“
Wolfgang Abendroth wurde am 2. Mai 1906 im damals
noch selbständigen Elberfeld (heute Wuppertal) in der
Parkstraße 22 (seit 1935 umbenannt in Malerstraße)
geboren. Er besuchte nach dem Umzug der Familie nach
Frankfurt am Main das Realgymnasium und studierte
anschließend Rechtswissenschaften in Frankfurt, Tübin-
gen und Münster. Durch das Erlebnis des Ersten Welt-
krieges, der Novemberrevolution, der Ermordung von
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wird Abendroth
früh in der Arbeiterbewegung aktiv. 1920 wird er Mit-
glied im KJVD, etwas später in der KPD und arbeitet in
der „Roten Hilfe“ mit. 1928 wird er wegen Kritik am
„ultralinken“ Kurs und der „Sozialfaschismusthese“ aus
der KPD ausgeschlossen. Er gehörte in der Weimarer
Republik dem linken Flügel der Arbeiterbewegung an.
Den autobiografischen Gesprächen, die 1976 als Buch
erschienen, gab er folgerichtig den Titel „Ein Leben in
der Arbeiterbewegung“.
1933 erhielt er Berufsverbot; 1935 musste er im Aus-
land – in Bern – promovieren. Im Widerstand gegen den
Faschismus setzte er sich vor allem für das Zusammen-
wirken, für die „Einheitsfront“ zwischen SPD und KPD
ein. Im Februar 1937 wurde er von der Gestapo ver-
haftet und brutal gefoltert. Die Folter wirkte noch bis zu
seinem Tode. Wegen „Hochverrats“ verurteilt verbrach-
te er vier Jahre im Zuchthaus Luckau. Ende 1943 wurde
er zum „Strafbataillon 999“ eingezogen und in Griechen-
land eingesetzt. Dort lief er zur griechischen Wider-
standsbewegung ELAS über und wurde am Ende des
Krieges von den Engländern in einem Lager für Kriegsge-
fangene im Ägypten interniert.
Erst 1946 kam er nach Deutschland zurück. Jetzt heira-
tete er Lisa Hörmeyer. Die Familie Abendroth ging zu-
nächst in die SBZ und Wolfgang übernahm eine Profes-
sur für Staatsrecht in Leipzig und Jena.
1948 ging die Familie in den Westen. Abendroth war
1946 der SPD beigetreten und wurde 1949 Gründungs-
rektor der gewerkschaftsnahmen „Hochschule für Ar-
beit, Politik und Wirtschaft“ in Wilhelmshaven. 1954
schrieb er das Buch „Die deutschen Gewerkschaften“.
Mit der Berufung von Wolfgang Abendroth auf einen
Lehrstuhl für „wissenschaftliche Politik“ im Jahre 1951
wurde das Institut für Politikwissenschaft der Universi-
tät Marburg gegründet. Abendroth prägte das wissen-
schaftliche Profil des Marburger Instituts (“Abendroth-
Schule“) weit über seine Emeritierung im Jahre 1972
hinaus.
In dieser Zeit war er wohl der einzige unter den bundes-
deutschen Hochschullehrern, der sich zum Marxismus –
als wissenschaftliche Methode – bekannte. Die „Theorie
eines kritisch erneuerten Marxismus“ begriff er als
„Theorie des sozialistischen und demokratischen Huma-
nismus, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch Karl
Marx und Friedrich Engels in der Gesellschaft des libera-
len Kapitalismus entwickelt wurde“.
Seit der Gründung der Bundesrepublik hatte er sich
öffentlich gegen die Politik der Remilitarisierung gewandt
und die Gewerkschaften in ihren Auseinandersetzungen
um das Betriebsverfassungsgesetz 1952 unterstützt. Als
Jurist engagierte sich Abendroth in der Arbeiterbewe-
gung, der er nützlich sein könnte. Seit den 50er Jahren
hatte er das KPD-Verbot von 1956 öffentlich kritisiert und
die Kampagnen der außerparlamentarischen Opposition
– vor allem in der Auseinandersetzung um die Notstands-
gesetze, später in der Auseinandersetzung um den soge-
nannten „Radikalenerlass“ – unterstützt. So wurde er –
vor allem von der konservativen Presse – als „Mentor“
bzw. als eine Art „Übervater“ der 68erBewegung stili-
siert.
Als Wissenschaftler war Abendroth sehr streng. Er be-
stand darauf, dass die politische Theorie des Marxismus
immer neu theoretisch und praktisch erarbeitet werden
müsse und der Fundierung durch „Realanalyse“ (das war
eines seiner Lieblingswörter) bedürfe. Ohne fundierte
historische Kenntnisse, ohne die Präzision der juristi-
schen Analyse und schließlich ohne gründliche Analyse
der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ver-
hältnisse bleibe die Theorie abstrakt, sie verkomme zu
bloßer Ideologiekritik, ohne jede Verbindung zur Praxis
der sozialen und politischen Auseinandersetzungen.
Diese Maßstäbe vermittelte er seinen Schülern, darunter
der außerordentlich großen Zahl seiner Doktoranden, die
unter anderem über den Faschismus, über die Geschichte
der Arbeiterbewegung, über Ideengeschichte der Politik
oder über Parteien, Wahlen und lokale Politik forschten.
Mit seinen Schriften zur Geschichte der deutschen und
europäischen Arbeiterbewegung leistete Abendroth Pio-
nierarbeit auf einem interdisziplinären Forschungsfeld,
das bis dahin in der Bundesrepublik – im ideologischen
Klima des Kalten Krieges – von der Geschichtswissen-
schaft, der Politikwissenschaft, aber auch der Kulturge-
schichte weitgehend ignoriert worden war. Seine
„Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung“
wurde – ebenso wie die „Einführung in die politische Wis-
senschaft“ (1968) – in zahlreiche Sprachen übersetzt und
wird noch heute als Standardwerk benutzt.
Dass Abendroth eine Persönlichkeit mit außerordentli-
cher Ausstrahlungskraft war, wurde von seinen Freunden
und Feinden anerkannt. Abendroth war ein großartiger
Redner, dessen Vorlesungen meist überfüllt waren – er
war rührend um seine Assistenten und Schüler bemüht.
Seine Wirkung ist folglich nicht allein über die große Zahl
der Professoren, Lehrer, Journalisten, aber auch der Ge-
werkschaftsfunktionäre und Berufspolitiker zu erschlie-
ßen, die sich – obwohl unterschiedlichen politischen Posi-
tionen zuzurechnen – als Schüler von Wolfgang Abend-
roth bekennen.
Wolfgang Abendroth war ein großartiger, kluger und kluger und en-
gagierter Humanist!
Dirk Krüger

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