Albert Norden: „Olympischer Friede“ vor und hinter der Theaterkulisse

8. Januar 2021

6. August 1936

Es erweist sich in diesen Wochen wieder die Geschicklichkeit des deutschen Faschismus, im jeweiligen Augenblick alle Kräfte auf einen Punkt zu konzentrieren. Seit Ende Juli erhält der Durchschnittsdeutsche keine andere geistige Nahrung als die Berichte über die Olympiade. Die Presse läßt alle politischen Ereignisse vor der Olympiade zurücktreten. Das ganze Radioprogramm dreht sich nur um die Olympiade. Es soll Berlin, es soll ganz Deutschland sich ausschließlich um die Frage kümmern, wieviel goldene Medaillen die deutschen Mannschaften erringen, ob die Vertreter dieser Nation die Sportler der anderen Nationen besiegen werden. Eine atemlose Spannung wird rund um den Ausgang der olympischen Kämpfe ständig zu erzeugen versucht, als ob es keine anderen Probleme gäbe. Es soll eben keine anderen, vor allem keine sozialen Probleme geben. Aus dem homo sapiens möchte die Hitlerregierung den homo olympicus machen.

Mit einem unerhörten Aufgebot ist sie am Werke, um die großen Scharen der ausländischen Gäste vom wirklichen Leben und Denken des Volkes auszusperren. Tausende dressierte Fremdenführer und noch viel mehr Geheimpolizisten errichten die unsichtbare Mauer und sorgen für die vom Regime gewollten Auskünfte, damit morgen diese Fremden als unbezahlte Agitatoren für die Größe Adolf Hitlers und die Ordnung im „Dritten Reich“ ein Zeugnis ablegen, das man im Ausland wie auch zur Bestätigung gegenüber dem eigenen Volke gebrauchen kann. Das deutsche Volk ist in seinem Kern so wenig chauvinistisch, daß es gar nicht erst gegenüber den ausländischen Gästen zur Freundlichkeit aufgefordert werden brauchte, die freilich bei einen kriegsstiftenden Herren immer den Charakter des Gezwungenen hat.

Gegen die Entrüstung der Welt über die Greuel des deutschen Faschismus wird der olympische Riesenrummel gesetzt. Wo sind diejenigen, die seit Hitlers Machtantritt zu insgesamt 600 000 Jahren Kerker verurteilt wurden? Wo sind die 40 000 ohne Urteil in den Konzentrationslagern Festgehaltenen? Kein Olympiagast bekommt sie zu sehen! Die politischen Häftlinge dürfen nicht in Sichtweite der ausländischen Automobilisten arbeiten. Für die sind die prächtig aufgeputzten Unter den Linden, die schönen und großen Anlagen des Olympischen Dorfes, diese angebliche Friedensstätte, in der ab Ende August die faschistischen Generale Scharfschießübungen kommandieren werden. Führt man die Ausländer an die Gräber unserer hingerichteten Genossen, der Zehntausende ermordeter Antifaschisten? Leitet man die Fremden an die Mauer der Lichterfelder Kaserne, die vor zwei Jahren mit dem Blut und Gehirn der zu Hunderten erschossenen SA-Funktionäre bespritzt wurde? Bringt man sie vor die Todeszellen der Neuköllner Arbeiter, an das Leidenslager Ossietzkys, in die Kerkergrüfte der Hunderte Sportler, die man gefangenhält, weil sie wirklich für einen friedlichen, völkerverbrüdernden Sport kämpften?

Nein, man führt sie in die Vergnügungslokale, die Zirkusse, die Kabaretts, die Theater. Plötzlich keine chauvinistischen Vorträge, Lieder und Märsche im Rundfunk mehr! Plötzlich Einschränkung der antisemitischen Propaganda, so daß der „Stürmer“, dieses von Hitler bevorzugte abscheuliche Gossenblatt aus den Schaukästen und fast allen Kiosken verschwunden ist! Plötzlich wird den verachtetsten Exoten das liebenswürdigste Gesicht gezeigt. Dem Berlin der olympischen Wochen ist freilich der Lebensmittelmangel nicht anzusehen, der ein Bestandteil des Hitlerfaschismus ist.

Wen die olympische Fackel blendet, der wird die glühenden Eisen nicht sehen, mit denen die gefangenen Gegner Hitlers gefoltert werden.

Von einem dieser Geheimnisse, das keine Nazizeitung berichtet und kein Fremdenführer erzählt, sei hier gesprochen. Was sich am Vorabend der Olympiade in den Opelwerken bei Mainz ereignete, das zeigt die wirkliche Situation der schaffenden deutschen Menschen. Es kam dort zu einem Kampf, von dem die ganze Weltpresse, allerdings nur summarisch, berichtete. Aber es ist wichtig, die Einzelheiten kennenzulernen, um ein Bild von der furchtbaren Fesselung des werktätigen Volkes im Reiche Hitlers zu gewinnen.

Die qualifizierten Arbeiter einer Schicht der Polsterabteilung, etwa 250 Mann, die bei schärfster Akkordarbeit nur einen Stundenlohn von 60 bis 65 Pfennigen erreichten, forderten vom Vertrauensrat die Aufnahme von Verhandlungen mit der Direktion, um eine Verbesserung ihrer Löhne zu erlangen. Brüsk lehnte die Betriebsleitung jedes Zugeständnis ab. Als dies bekannt wurde, legte die Abteilung ihre Arbeit nieder, stellte das Fließband ab und begab sich auf den Hof. Von der Direktion gerufen, brachen nun starke Polizei-, SS- und SA-Kräfte in den Betrieb ein, umzingelten die 250 Mann und verhafteten an Ort und Stelle die mutmaßlichen „Rädelsführer“, 37 Arbeiter, darunter 15 SA- und 6 SS-Leute. Alle übrigen wurden entlassen. Die Festgenommenen sind inzwischen teilweise den schwersten Folterungen seitens der Geheimen Staatspolizei unterworfen worden. Aber die Nachricht von dieser Bewegung hat schnell die Runde gemacht und dazu beigetragen, daß auch in den übrigen Betriebsabteilungen von Opel sich ein regelrechter Widerstand entwickelt.

Dieser Fall ist symptomatisch für den Terror, der auf jede Lohnbewegung, auf jede selbstständige Regung der Arbeiterschaft antwortet. Die Hitlerregierung verkündet das Prinzip der Stabilität der Löhne. Sie tat es in den ersten Jahren mit der Begründung, daß erst einmal die Wirtschaft wieder gesunden müsse. Nun, die deutsche Schwerindustrie hat infolge der ungeheuren Rüstungsaufträge längst den Konjunkturstand von 1928 erreicht, aber die Löhne verharren nach wie vor auf dem tiefsten Krisenstand von 1932. Darüber wird unter den Belegschaften eine sehr lebhafte Erörterung geführt, die durch die Ereignisse in Westeuropa nur neue Nahrung erhält. Nachdem der Aufschwung der Rüstungsindustrie es unmöglich gemacht hat, das Argument vom Abwarten der „besseren Zeiten“ weiter ins Feld zu führen, wird ganz offen erklärt (siehe die vierte Aprilnummer der „Arbeitspolitik“, Organ des Propagandaamts der Deutschen Arbeitsfront), daß die Erhöhung der Löhne zu einer Steigerung der Kosten des Wehrprogramms führen müsse. Darum sei auch weiterhin das bisherige niedrige Lohnniveau nötig. Die ersten Opfer der Kriegspolitik Hitlers sind also die deutschen Arbeiter selbst.

Nun ist Opel heute das größte Autowerk des Kontinents, es steht an achter Stelle in der Weltautoproduktion. 350 Wagen verließen täglich im letzten Jahr den Betrieb. Hitlers Kriegspolitik wie auch seine Judenvertreibung füllen die Taschen der Herren von Opel. Ihre Aufträge für die deutsche Armee gehen ins Ungemessene. Sie konnten in Brandenburg bei Berlin vor kurzem ein neues Werk errichten, in dessen höchstmodernen Anlagen zwei Typen von „Opel-Blitz“-Lastwagen ausschließlich für die Bedürfnisse der Generalität erzeugt werden. Sie erweitern augenblicklich ihr Hauptwerk in Rüsselsheim bei Mainz durch den Bau neuer Fabrikationsstätten. Sie verhandeln in Jugoslawien über die Errichtung einer großen Automobilfabrik. Sie kauften vor einem halben Jahr die Bayrischen Spiegelglasfabriken in Fürth aus „nichtarischem“ Besitz für ein Spottgeld auf.

Die Herren Unternehmer von Opel durften im vergangenen Jahr einen Überschuß von 113 Millionen Mark aus den Arbeitern herauspressen.

Aber die Arbeiter dürfen nicht einmal die bescheidenste Lohnforderung anmelden.

Die Herren von Opel dürfen ihren zugegebenen Reingewinn gegenüber 1933 auf 20 Millionen vervierfachen, ungerechnet die 24 Millionen, die in den Rubriken „Sonstige Aufwendungen“ und „Reserven“ versteckt sind.

Aber gleichzeitig muß die verdreifachte Arbeiterzahl mit einer insgesamt knapp anderthalbfachen Lohnsumme auskommen.

Es dürfen die Herren von Opel – ja, wer sind denn diese Herren? Das sind John Piermont Morgan, Owen D. Young und die ebenso berüchtigt skrupellosen amerikanischen Pulverkönige Gebrüder DuPont de Nemours! Denn Opel gehört zum Besitz des Welttrusts General Motors, in dessen Aufsichtsrat die eben Genannten den Ton angeben. Man mag welche Hakenkreuzzeitung immer aufschlagen, vor dem Machtantritt Hitlers und zuweilen auch heute noch findet man erbitterte Angriffe gegen die „internationale Hochfinanz“, als deren Inkarnation gerade die Morgan und Young, der Vater des gleichnamigen Tributplanes gegen Deutschland, unablässig genannt wurden. Der Vorstand des Aufsichtsrates von Opel ist zusammengesetzt aus amerikanischen und deutschen Bankiers, Direktoren und Generaldirektoren der General Motors, eben der Delegierten der Morgan und Young. Aus den Tanks- und Panzerwagenbestellungen der Hitlerregierung strömen ihnen die Millionen zu. Ja, die Gewinnler der faschistischen Aufrüstung sitzen auch in der Fifth Avenue.

Vor den Geldschränken dieser Geldfürsten der Welt stehen die Faschistenführer Posten. Wehe den Arbeitern, die ihr gutes Recht vertreten! Wehe ihnen, wenn sie einen ihrer Leistung entsprechenden Lohn verlangen! Man hetzt ihnen die Polizei auf den Hals, Kader der SS und SA werden eingesetzt, um ihre eigenen Kameraden gefesselt abzuführen. Der Profit der internationalen Finanzkapitalisten ist den Hitler und Göring tausendmal wichtiger als das Wohl deutscher Arbeiter, die für die Morgan und Young ihre Haut auf den Arbeitsmarkt tragen. Die Gestapo, die ganze faschistische Bürokratie ist hier das unmittelbare Werkzeug der amerikanischen Milliardäre gegen die eigenen deutschen Landsleute. Denn die faschistischen Nationalisten sind überall die Feinde der wahren Patrioten.

Hitler gerät außer sich, wenn von internationaler Solidarität gesprochen wird, und über diesen Begriff gießt die Nazipropaganda die übervolle Schale ihres giftigen Hasses aus. Aber die faschistische Diktatur kennt und übt die internationale Solidarität, freilich nur mit den Reichen, mögen es die Amerikaner Morgan und Young oder der spanische konterrevolutionäre Riesenschieber March sein.

Die Ley und Konsorten haben erklärt, daß die Arbeiter und Fabrikanten sich untereinander verständigen sollen. Scheitert aber die Verständigung, wollen die Arbeiter den schon zur Gewohnheit werdenden Abbau der übertariflichen und auch tariflichen Akkordzuschläge, die grenzenlose Verlängerung der Arbeitszeit nicht mehr ertragen, dann greift der faschistische Staat für die im Reichtum schwimmenden Fabrikanten ein. Es gäbe keinen Klassenkampf mehr im „Dritten Reich“, verkünden die Hakenkreuzbonzen. Sie schaffen den Klassenkampf auf ihre Weise ab, indem sie die Arbeiter zwingen wollen, sich widerstandslos dem Klassendiktat der Millionäre zu beugen. Dieser Tage machte sich das Organ der Deutschen Arbeitsfront in seiner August-Nummer über die „westliche Toleranz“ lustig, die es nicht wage, „scharfe Salven in die Reihen der streikenden französischen Bergarbeiter“ abzugeben. Scharfe Salven – das ist die faschistische Devise gegen die Arbeiter, die sich nicht für die Dividende des internationalen Kapitals aushungern lassen wollen.

Nicht der olympische Lärm, sondern der Vorfall von Opel zeigt das wirkliche Gesicht des heutigen Deutschlands. In den Tiefen seines Volkes lebt der heiße Friedenswille, den seine Herrn in den olympischen Reden nur vortäuschen und den sie selbst täglich durch ihre Handlungen desavouieren. Wenn der Kampf der deutschen Arbeiter um höhere Löhne das Hitlersche Kriegsprogramm durchkreuzt, wie es die faschistische Presse gesteht, dann müssen alle Kräfte in der Welt, die sich dem Kampf gegen den Krieg widmen, energisch eingreifen, um die Befreiung der Verhafteten von Opel zu erreichen. Hier erwächst den Friedensfreunden, allen voran den gewerkschaftlich Organisierten, eine wichtige Aufgabe, von deren Bewältigung auch das Schicksal kommender Arbeiterkämpfe im „Dritten Reich“ mit abhängt.

Erschienen unter: Hans Behrend.

Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung (Basel), 1936, Nr. 35, S. 1419-1421.

Albert Norden: Die Nation und wir – Ausgewählte Aufsätze und Reden 1933-1964, Band 1, Berlin 1965, S. 135-141

Albert Norden: Wuppertal – 23. Januar 1936

4. Januar 2021

„Der Wuppertaler Kommunismus ist une vérité (eine Wirklichkeit), ja beinahe schon eine Macht“, schrieb Friedrich Engels im Februar 1845 aus Barmen an Karl Marx. Das war im Vormärz, als die junge fortschrittliche Bourgeoisie des Rheinlandes mit dem Radikalismus kokettierte und das Proletariat erst zu erwachen begann. Vier Jahre später steht derselbe Friedrich Engels an der Spitze von Arbeiterbataillonen vor dem Elberfelder Rathaus. In diesen vier Jahren ist Gewaltiges geschehen. Das Proletariat betritt 1848 als selbständige Kraft die Bühne der europäischen Geschichte, und sein Erscheinen auf der politischen Arena genügt, um die deutsche Bourgeoisie unverzüglich ihr Kompromiß mit dem Feudalismus schließen zu lassen.

Noch einmal treten im Mai 1849 die Arbeiter des Rheinlandes und Badens auf den Plan zum Sturz des volksverräterischen Ministeriums Brandenburg-Manteuffel, das alle Versprechungen, die im März 1848 gegeben wurden, längst vergessen und begraben hat. Die ersten Barrikaden entstehen in Elberfeld, Gefängnisse werden gestürmt, und die letzten Zeugen der damaligen Kämpfe, mehrpfündige Kugeln, sieht man heute noch in den Häusermauern des Stadtzentrums von Elberfeld. Aber die scheinbar so fortschrittliche industrielle Bourgeoisie schlägt sich jetzt, wo ein Zipfel der Macht in ihren Händen ist, auf die Seite des Feudalismus. Ihre Bürgerwehr wird mit Hilfe des Militärs Herr der Stadt, aus der Engels ausgewiesen wird.

Als Ferdinand Lassalle seine Agitation für die Arbeitervereine aufnimmt, wendet er sich zuerst in diese Gegend. Hier, bei den Färbern und Bleichern, den Textilern und den Arbeitern der Stahlwaren-Industrie entstehen die ersten sozialdemokratischen Arbeitervereine Norddeutschlands. Diese Hochburg der alten Sozialdemokratie konnten auch Bismarcks Kanonen des Sozialistengesetzes nicht zerschießen.

Nach dem Weltkrieg flammten im Wuppertal wie in allen Industriezentren des Reiches revolutionäre Kämpfe auf, um Deutschland zu einer wirklichen Republik der Werktätigen zu machen. Und mit welch grenzenloser Opferbereitschaft die Arbeiter kämpften, bezeugen viele Kampfszenen wie die auf der Elberfelder Bahnhofsbrücke, wo trotz Verbots der revolutionären Leitung zwei junge Männer allein den anrückenden Truppen entgegentraten und deren Vormarsch stundenlang durch Maschinengewehrfeuer aufhielten. Drei Tage lang mußten die Leichen der beiden Jungarbeiter zur Abschreckung liegen bleiben.

Ein Jahr später ernteten Ebert-Scheidemann-Noske, was sie mit der Niederschlagung der Arbeiter 1919 gesät hatten: den monarchistisch-faschistischen Staatsstreich der Kapp und Ehrhardt, deren Regimenter auch ins Wuppertal einmarschierten. Auf ihre Helme ist das Hakenkreuz gemalt. Aber jetzt zeigte sich, was die Einheitsfront vermag. Die Leitungen der KPD, SPD und USPD organisierten vereint den militärischen Gegenangriff. Im westfälischen Hagen und Hamm standen die Arbeiter bereits in siegreichen Kämpfen mit den Weißen. Man mußte also die Schlacht von den Höhen her beginnen lassen, von denen das Wuppertal umgeben ist. So konnten die bereits erfolgreichen Arbeiter der benachbarten Industriereviere eingreifen und die Wuppertaler mit Waffen versorgen, die dem geschlagenen Feind schon in stattlichen Mengen abgenommen waren. Das Kommando der Weißen, an seiner Spitze Generalmajor von Gilhausen, war schon mitten im Kampf geflohen und hatte die Soldaten ihrem Schicksal überlassen. Bald waren Elberfeld und Barmen in den Händen der Arbeiter, die in den folgenden Tagen der Reichswehr neue schwere Niederlagen beibrachten. In langen Zügen wurden die gefangenen Offiziere und Soldaten ins Elberfelder Polizeipräsidium eingeliefert. Das Volk staute sich zu Zehntausenden in den Straßen, die von Verwünschungen widerhallten. Aber weder draußen noch im Präsidium geschah den Gefangenen etwas zu Leide (in demselben Präsidium hauchten sechs Antifaschisten im vorigen Jahr ihr Leben unter der Folter aus). Das waren die Wuppertaler Arbeiter und ihre Einheitsfront, das waren ihre Tapferkeit, ihr Sieg und ihre Großmut.

Fünfzehn Jahre später ist unter dem faschistischen Terror die Einheitsfront, die damals von Severing zugunsten der weißen Generale und der Trustherren gebrochen wurde, wieder Wirklichkeit geworden. Unterschiedslos begannen in Wuppertal Kommunisten, Sozialdemokraten, Parteilose und Christliche eine freigewerkschaftliche Tätigkeit in den Betrieben zu entfalten. Auf die Vertrauensräte wurde ein lebhafter Druck für die Vertretung der Belegschaftsforderungen ausgeübt. Delegationen debattierten mit den Betriebsdirektionen um die Besserstellung der Arbeiter. Das war für die Regierung der „Volksgemeinschaft“, die den Unternehmern ungeheure Gewinne durch die Niederhaltung des Proletariats verschafft, unerträglich. Die Gestapo griff ein. Es war kein Zufall, daß die Hauptverhaftungen im Vorjahr kurz vor den Vertrauensrätewahlen erfolgten. Die Oppositionsbewegung in den Betrieben sollte gebrochen und durch den Terror ein Wahlergebnis erzwungen werden, mit dem das Hitlerregime hätte zufrieden sein können. Die Absicht gelang gründlich daneben. Und da die Geheime Staatspolizei spürte, daß sie einen vergeblichen Schlag geführt hatte, organisierte sie eine Provokation, würdig der klassischen Ochrana-Methoden. Mehrere dieser geheimpolizeilichen Schurken wurden in der Maske von Antifaschisten in die Betriebe geschickt und organisierten eine Agitation, deren Teilnehmer im Spätherbst 1935 alle verhaftet wurden. Das Hauptlockmittel waren antifaschistische illegale Zeitungen, die von der Gestapo vorher beschlagnahmt worden waren. Der Hunger nach diesem Material ist bei den Arbeitern Deutschlands so groß, daß manche die notwendige Vorsicht außer acht lassen, nur um in den Besitz dieser Zeitungen zu kommen.

Wenn Hitler behauptet, daß er das Volk hinter sich habe, dann liefern die Wuppertaler Massenverhaftungen und die gegenwärtigen Monstreprozesse in allen Teilen Deutschlands ein Dementi, das überzeugender ist als die Erklärungen des Reichskanzlers. Nicht die Herren Fabrikanten und Bankiers, nicht die Creme der Gesellschaft, nicht die hauchdünnen Schichten der oberen Zehntausend werden eingesperrt und geschlagen und verurteilt. Verhaftet und angeklagt, verurteilt und getötet werden die Männer und Frauen des Volkes, angeklagt sind in Wuppertal die Arbeiter der berühmten Kunstseidefabrik Bemberg, der Teppichbetriebe Gebrüder Vorwerk, der metallverarbeitenden Fabriken und des IG-Farben-Werkes Bayer. Angeklagt sind kleine Händler und Angestellte. Angeklagt sind viele, deren Gesichter und Leiber von den Narben des Weltkrieges gezeichnet sind. Angeklagt sind die, die von Jugend an auf der Schattenseite des Lebens standen, die als erwachsene Arbeiter zuletzt 15 bis 20 Mark Wochenlohn nach Hause brachten, weil Hitlers Kriegspolitik die Verbrauchsgüterindustrie ruiniert und die Mehrzahl der Wuppertaler Betriebe die Kurzarbeit einführen mußte. Angeklagt sind diejenigen, die von den baltischen Grafen, von Hitler und Goebbels als Minusmenschen oder Untermenschen beschimpft werden.

Aber diese „Untermenschen“ beschämen ihre Richter. Die Herrennaturen der SA- und SS-Führung versinken klein und häßlich vor den Angeklagten, in denen sich einfache Größe des Herzens und das Bewußtsein der revolutionären Tradition mit der Härte des Willens vereint, den keine Macht der Erde beugen kann.

Welch ein himmelweiter Unterschied zwischen diesen Angeklagten, die schon durch eine Hölle der Folterung hindurchgingen, und den Herren, die zu ihren Richtern ernannt sind! Da kann von einer Rechtsprechung selbst im bürgerlichen Klassensinn gar keine Rede sein. Da sitzen Leute, die sich nie in ihrem Leben mit juristischen Fragen beschäftigten, aber dafür einen blutigen Haß gegen den proletarischen Befreiungskampf mit allen Fasern in sich eingesogen haben: drei höhere SA-Führer, zwei Gruppenführer der SS, ein Fliegeroberleutnant. Um nach außen wenigstens die juristische Form zu wahren, wird dieses Gremium, das sich „Volksgericht“ nennt, von einem Juristen geleitet. Aber selbst dieser hatte sich vor dem soeben verhandelten ersten Prozeß das Material überhaupt nicht angesehen und nahm erst im Verlauf der Verhandlungen Einsicht in die Akten. Der Fliegeroffizier und die SS-Führer schwiegen die ganzen drei Tage hindurch. Was sollten sie auch reden, wo das Urteil von vornherein feststand! Nur die SA-Führer fühlten sich verpflichtet, zu agitieren und ihren antisowjetischen Analphabetismus unter Beweis zu stellen: „Wissen Sie, daß in Rußland, in einem Land von 365 (!) Millionen Einwohnern, zwei Millionen Kommunisten die übrigen 363 Millionen terrorisieren?“ wandte sich allen Ernstes ein SA-Führer an die Angeklagten.

Und diese? Drei Generationen standen da vor Gericht: Greise im siebenten Lebensjahrzehnt, Männer des Schützengrabens und junge Arbeiter, deren Jugend in die Nachkriegszeit fiel. Drei Generationen – aber ein Wille. Mehrere Parteien – aber eine Todfeindschaft gegen die Hitlerdiktatur. Verschiedenartige soziale Herkunft – aber einig und einander würdig im Mut des Bekennertums und im Ziel: dem Sturz des Faschismus.

Ein seit 1893 politisch organisierter, alter sozialistischer Arbeiter ruft den Richtern entgegen: „Hier in diesem Saal hat August Bebel gestanden, als er während des Sozialistengesetzes angeklagt wurde. Wir sind das geblieben, was er war!“

Ihm folgt ein 26jähriger: „Mein Bruder war 1914 Kriegsfreiwilliger. Ich war noch ganz jung. 1917 kam er zum erstenmal auf Urlaub und sagte zu mir: ‚Wenn Du einmal so alt bist wie ich, und es kommt wieder ein Krieg, und du meldest Dich freiwillig, dann schlage ich Dich tot.‘ Aus diesem Grunde bin ich später Kommunist geworden, weil ich weiß, daß ein Sowjetdeutschland in Verbindung mit der Sowjetunion jeden Krieg in Europa unmöglich macht.“

Ein aus dem bürgerlichen Lager kommender Angeklagter, Prokurist einer großen Handelsfirma, schildert seinen politischen Entwicklungsgang: „Ich war immer Demokrat, und erst als ich von dem ungeheuren Terror und den schrecklichen Mißhandlungen nach Hitlers Machtantritt hörte, bin ich Kommunist geworden.“

Der Vorsitzende fällt ihm ins Wort: „ Wenn Sie hier so etwas sagen, kann es Sie den Kopf kosten.“ Der Angeklagte: „Für das, was ich getan habe, trage ich auch die Folgen.“

Ist es nicht klar, das eine solche Haltung den Stolz und die Bewunderung der ganzen werktätigen Bevölkerung hervorruft, deren sich im ersten Augenblick nach den Massenverhaftungen eine vorübergehende Deprimierung bemächtigt hatte? Die Urteile sind furchtbar. Von der ersten Angeklagten-Gruppe, deren Erklärungen wir hier zum Teil wiedergaben, wurden der kommunistische Genosse Bertram zu 15 Jahren Zuchthaus, vier Angeklagte zu je 10 Jahren, vier weitere zu je 8 Jahren Zuchthaus und die übrigen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Ein zweiter im Dezember gegen 59 Remscheider Arbeiter geheim durchgeführter Prozeß – so sehr fürchten die Ankläger die gefesselten Angeklagten! – brachte insgesamt 200 Jahre Zuchthaus.

Aber was den Verurteilten die Kraft gibt, ihr schweres Los zu tragen, ist das Bewußtsein, die Sache des Volkes zu vertreten. Und so, wie sie ihre Kraftquelle im Volk haben, strömt aus ihrer Kühnheit im Gerichtssaal neue Energie ins Volk. Es lag noch tiefe Dunkelheit über Wuppertal, als während des Prozesses gegen Bertram und Genossen die Arbeiter jeden Morgen in aller Frühe zu Hunderten vor dem Gerichtsgebäude Schlange standen, um als Zuhörer in den Verhandlungssaal eingelassen zu werden. Kein Wort der Angeklagten entging ihnen. Wenn diese vom Untersuchungsrichter über die Straße zum Prozeßgebäude geführt wurden, dann ertönte kein Schimpfruf, kein Hohn- oder Rachegeschrei wie bei jenem Gefangenenzug 15 Jahre zuvor. Auch diesmal warteten Tausende. Aber beim Nahen der roten Gefangenen entblößten sich alle Köpfe, heimliche Grüße, verstohlene Händedrücke wurden gewechselt. Kein Zweifel, auf wessen Seite das Volk steht.

Die Frauen geben an Kraft der antifaschistischen Gesinnung und Tat den Männern nichts nach. 658 der Angeklagten sind verheiratet. 658 Frauen stehen an den Besuchstagen vor dem Gefängnis, um das, was sie sich selbst vom Munde absparen, ihren Männern zu bringen. Die Herren Staatsanwälte und Gestapo-Kommandeure können diese Liebe, diese Solidarität nicht begreifen, weil sie selbst einer solchen nicht fähig sind. Sie haben die Frauen verhaftet und tagelangen Verhören unterziehen lassen, um zu erfahren, woher das Geld stamme. Sie sind nicht auf ihre Kosten gekommen.

Der grausame Terror, unter dem seit dem Januar 1933 in Wuppertal dreißig Arbeiter verbluteten, die Massenverhaftungen und Riesenprozesse vermochten nicht, den Faschisten die so gefürchtete Opposition vom Hals zu schaffen. Um die Jahreswende sind jetzt wieder Flugblätter der Kommunistischen Partei erschienen, die zahlreich in die Betriebe, in die Kreise der SA und des intellektuellen Mittelstandes eingedrungen sind und tiefen Eindruck hervorriefen. Ja, „der Wuppertaler Kommunismus ist une vérité“, aber er ist es nicht nur in Wuppertal. Die antifaschistische Opposition, die in den Betrieben ihr Zentrum hat, ist nicht zu überwinden, und ihr Geist kann nicht besser geschildert werden als durch das Wort, mit dem der 18jährige Otto Funke in Elberfeld seine Verurteilung zu vier Jahren Zuchthaus entgegennahm: „In vier Jahren sitzt ihr nicht mehr da oben, dann sitzen wir da!“

Wenn die Völker der Erde in handelnder Solidarität sich vereinigen, wird ihre Aktion die todesbedrohten Antifaschisten unseres Landes, die Angeklagten von Neukölln, von Wuppertal, von Hamburg und Bremen befreien können.

Die Schließung der Konzentrationslager und die Freilassung Thälmanns wie aller politischen Gefangenen – diese Forderungen der deutschen Antifaschisten müssen in der ganzen Welt Widerhall finden.

Erschienen unter: Hans Behrend. Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung (Basel), 1936, Nr. 4, S.161-163.

Albert Norden: Die Nation und wir. Ausgewählte Aufsätze und Reden 1933-1964, Band 1; Berlin, 1965; S. 91-97

Isolierung weiter verschärft

28. Dezember 2020

Kaum Kommunikation von Mumia Abu-Jamal möglich, Viruszahlen steigen

Jürgen Heiser in junge Welt vom 28.12.2020

Im Staatsgefängnis SCI Mahanoy in Frackville (Pennsylvania) sind Gefangene wie in vielen anderen Haftanstalten der USA wegen der Coronapandemie unter einem strikten Lockdown isoliert. Von dem US-Bürgerrechtler und Journalisten Mumia Abu-Jamal kann an dieser Stelle erneut keine aktuelle Kolumne erscheinen, da der politische Gefangene sich in einem der elf »Housing Unit« genannten Zellentrakte des SCI Mahanoy seit etwa Mitte Dezember 2020 in Quarantäne befindet. Am 23. Dezember wurden die betroffenen Trakte vom Department of Corrections (DOC), der zentralen Gefängnisbehörde Pennsylvanias, auf eine »Liste erweiterter Quarantänemaßnahmen« gesetzt und die Isolierung weiter verschärft. Das bedeutet, dass dort auch keine Besuchsgespräche über Videomonitore mehr stattfinden dürfen. »Die Covid-19-Fälle sind auf einem Allzeithoch«, schloss sich das DOC der generellen Alarmmeldung des Gouverneurs von Pennsylvania an. Es sei nun »wichtiger denn je, eine Maske zu tragen und Abstand zu halten«.

Zur Isolierung einzelner Abteilungen des SCI Mahanoy war es schrittweise seit November gekommen, weil sich Gefangene in der zweiten Pandemiewelle mit dem Coronavirus infiziert hatten. Am 25. November 2020 hatte Pennsylvanias Sender WFMZ berichtet, das SCI Mahanoy habe »seinen ersten Covid-19-Todesfall bestätigt«. Ein 33jähriger Gefangener, der eine Strafe von fünf bis zehn Jahren verbüßte, sei gestorben und »insgesamt hundert Insassen und vierzig Bedienstete infiziert«. Der Gefangene sei »der 26. Insasse, der in Pennsylvanias Staatsgefängnissen an Covid-19 gestorben« sei.

In der ersten Dezemberwoche meldete die Tageszeitung Philadelphia Inquirer, dass in Pennsylvania »seit Ende Oktober bei mindestens 2.300 Häftlingen das Virus diagnostiziert wurde«, davon allein bei 150 in den Haftzellen von Philadelphias Staatsgefängnissen und zusätzlich bei 242 Häftlingen im dortigen Bundesgefängnis. Die Stadtregierung hob daraufhin alle Gerichtstermine auf und verhängte über die gesamte Justiz einen Shutdown. Der Inquirer kritisierte, anders als in Kalifornien, Massachusetts, Michigan und North Carolina seien in Pennsylvanias Staatsgefängnissen Coronatests für Justizbedienstete, die täglichen Umgang mit den Eingesperrten haben, nicht obligatorisch, wie es die US-Zentren für Krankheitsbekämpfung und Prävention zwingend vorschreiben. Pennsylvania biete sie nicht einmal für die freiwillige Teilnahme an. In Philadelphia fordern deshalb sowohl Rechtshilfegruppen der Gefangenen als auch die Gewerkschaft der Justizvollzugsbediensteten Tests für alle.

Entsprechend dieser zunehmend angespannten Lage in Pennsylvanias Haftanstalten musste DOC-Chef John Wetzel am 10. Dezember Infektionszahlen einräumen, »die weit über dem Höchststand vom Frühjahr« lägen. Deshalb habe er alle Anstalten angewiesen, bis Weihnachten nur Begegnungen von »nicht mehr als acht Personen zuzulassen« und Besuche grundsätzlich nur indirekt über die in der Anstalt eingerichteten Monitorplätze zu erlauben. Postsendungen wurden auf zwölf Standardbriefe pro Monat beschränkt, das Recht zu telefonieren ausgesetzt.

Von der Anstaltsleitung des SCI Mahanoy war bislang weder zu den inzwischen verhängten Verschärfungen Genaueres zu erfahren noch dazu, wie Abu-Jamal davon betroffen ist. Sicher ist nur, dass bis Weihnachten die Infektionslage im Gefängnissystem Pennsylvanias analog zum massenhaften Anstieg der Ansteckungen in der Gesamtbevölkerung derart eskalierte, dass die neuen Lockdownmaßnahmen mindestens bis in den Januar hinein beibehalten werden sollen.

Das Berliner Free-Mumia-Bündnis hatte schon vor den Feiertagen erklärt, es sei unklar, ob Mumia Abu-Jamal »seine Rede über faschistische Tendenzen in den USA« am 9. Januar 2021 auf der 26. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz wie in den Vorjahren mit eigener Stimme vortragen werde, »da er aufgrund des Zellenlockdowns derzeit selbst kaum nach außen kommunizieren« könne. Da er seinen Redebeitrag jedoch schon vorher schriftlich nach Berlin gesandt habe, werde dieser im Livestream der Konferenz verlesen und Abu-Jamal so auf jeden Fall wieder teilnehmen.

https://www.jungewelt.de/artikel/393239.isolierung-weiter-verschärft.html

Der gleiche alte Mist

22. Dezember 2020

Eckart Conze über die Schatten des Kaiserreichs

Von Sebastian Schröder

Der 18. Januar 1871, der Tag der Gründung des deutschen Nationalstaates im Spiegelsaal von Versailles, jährt sich zum einhundertundfünzigsten Mal. Einflussreiche Kräfte von rechts deuten die Geschichte des autoritären Kaiserreiches positiv, um ihrer heutigen und zukünftigen deutschnationalen Politik eine Legitimation zu verschaffen.

Gegen den verharmlosenden Erinnerungskult an das Kaiserreich und seine nationalistischen Traditionen setzt der Historiker Eckart Conze sein neues Buch Schatten des Kaiserreiches – Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe.

Er fragt „Begann 1871, was zwischen 1933 und 1945 so katastrophal endete? War im Kaiserreich das „Dritte Reich“ bereits angelegt?“ und kann zeigen, dass sowohl die Entstehung des Nationalstaates, seine Konstruktion und die vor allem die reaktionären gesellschaftlichen Strukturen in den Ersten Weltkrieg geführt, die Weimarer Republik zerstört und den deutschen Faschismus ermöglicht haben.

Zu Beginn beschreibt Conze den Weg zum Nationalstaat. Die Befreiung von der französischen Besatzung 1813 gehört zur Vorgeschichte der „Reichsgründung“ ebenso wie die „Rheinliedbewegung“ 1840 und die bürgerliche Revolution 1848. Seit der Niederlage der 48er Revolution lenkt Bismarck die Entstehung des Nationalstaates unter der Vorherrschaft von Preußen. Es ist eine der nachdrücklichsten Feststellungen Conzes, dass Bismarck erst mit der Unterstützung der Liberalen seine „Revolution von oben“ und seine Kriege durchsetzen konnte.

Jetzt folgt der entscheidende Teil des Buches, denn Conze benennt offen, was den 1871 im Krieg gegründeten „autoritären Nationalstaat“ strukturell kennzeichnet.

Dieses Kaiserreich war keine Demokratie, denn das Wahlrecht (nur für Männer) war in Preußen, für 60 Prozent der Wähler, eingeschränkt. Es gab auch keine festgeschriebenen Grundrechte wie in der Verfassung von 1848. Entscheidend war, dass das Parlament keine Regierung bilden konnte und auch den Reichskanzler nicht abwählen konnte. Die Stellung von Kaiser und Reichskanzler war institutionell unangreifbar und von Preußen dominiert.

Zu diesen Grenzen der Demokratisierung kommt der ausschließende Nationalismus: „Den äußeren Feinden der Nation, allem voran dem „Erbfeind“ Frankreich, entsprachen als „Reichsfeinde“ im Innern alle Kräfte, die sich im autoritären, kleindeutsch-preußischen und protestantischen Nationalstaat nicht wiederfanden, die ihn ablehnten, weil er im Gegensatz zu ihren politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen stand. Das galt für Katholiken, es galt für die Arbeiterbewegung und für nationale Minderheiten wie Polen, Dänen oder frankophone Elsässer, für die Anhänger der Welfen (…) und sehr bald auch schon für die deutschen Juden. Sie alle verband die Stigmatisierung als Reichsfeinde, als „undeutsch“, der Vorwurf, durch nationale Unzuverlässigkeit die Einheit der Nation zu unterminieren und sie dadurch zu schwächen.“

Die Bedeutung des Antisemitismus in Gesellschaft und Politik hebt Conze hervor, und er weist auf die immer weiter wachsende Rolle der Verbände im Kaiserreich hin. Sie haben den politischen Diskurs nachhaltig nach rechts gedrückt, und auch die Lebenswelt von Millionen Deutschen über mehrere Jahrzehnte bestimmt.

Autoritarismus und Nationalismus gingen einher mit Imperialismus. Schon Mitte der 1880er Jahre annektierte das Kaiserreich den Großteil seiner Kolonien. Deutschland unterwirft die besetzten Gebiete einer drei Jahrzehnte andauernden Ausbeutung und Unterdrückung bis hin zum Völkermord. Die massive Aufrüstung und immer aggressivere Provokationen führen schließlich zur vom Kaiser und den Militärs gewünschten Eskalation. Am Ende steht der Erste Weltkrieg.

Anschließend zeigt Conze, wie Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ im Sinne der neurechten Historiker*innen den Diskurs bestimmt und ordnet die aggressiven Entschädigungsforderungen der Hohenzollern kritisch ein.

Eckart Conze hat das wichtigste Buch zum 18. Januar 1871 vorgelegt, seine „geschichtspolitische Intervention“ zielt auf die Gegenwart, und er warnt für die Zukunft vor den neuen Deutschnationalen: „Nation ist in dieser Sichtweise kein demokratisches und kein freiheitliches Konzept individueller Zugehörigkeit und Teilhabe, sondern beruht auf der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gemeinschaftsfremden.“ Er macht deutlich: Wer das Kaiserreich idealisiert, wendet sich gegen die Fundamente der Republik.

Conze ist allerdings naiv bei der Beurteilung der Kräfte, die die Restauration beharrlich vorantreiben. Es gibt eben nicht erst seit der Gründung der AfD – als Partei der Deutschnationalen – reaktionäre Vorstöße. Der Wiederaufbau des Berliner Schlosses mit dem Humboldt-Forum wird seit 2000 geplant, der Wiederaufbau der Garnisonskirche seit 2004. 1999 führte Deutschland Krieg gegen Rest-Jugoslawien, und es vergeht keine Woche ohne Naziskandale in Bundeswehr, Polizei und Geheimdiensten. Darauf gibt das Buch keine Antwort.

Erscheint in antifa Januar/Februar 2021 – Schwerpunkt Reichsgründung

Günter Weisenborn: Die Nationen Europas

21. Dezember 2020

Wie verschämt in Bettlermänteln, dürr, zunderrrot

stehn sie weit auseinander im hallenden Europa

vor dem Abendhimmel des Kontinents und hören

verstört Blut tropfen und das Rascheln der Brandstätte,

die Nationen.

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Seht sie, die Dunklen, mit knirschenden Kiefern,

den Fuß in den Ratten, den Mund welk von Kränkungen.

Noch dampft die Eifersucht aus den mißstrauischen Mänteln,

und schon tasten die Hände fatal nach der schartigen Waffe,

die Nationen.

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Eifersüchtige Bettler, so stehn sie, jede fern von den andern,

Honig auf der Zunge, Verwünschungen brütend und düster,

mit funkelndem Wundensaum, mit Blut und Tressen gezierte,

hinter der Hecke von Grenzen, über die Flore wehn

die Nationen.

———-

O ihr natürlichen Völker der Welt, werft ab diese Mäntel,

die prunkend zerschundenen eures ergrauten Nationalismus,

tretet hervor, ihr Völker, von Lügen geschwefelte ihr,

werft ab die Masken von Fliegen, die Panzer des Verdachts, verlaßt

die Nationen.

———-

Tretet zusammen, ihr Völker, der Welt, entwerft die Ordnung der neuen Welt,

verlaßt die Nationen, die Kriegermäntel werft ab,

tretet zusammen, ihr Völker, zeigt euch die offenen Hände,

das neue Jahrhundert erwartet von uns das neue Gesetz

des Menschen.

———-

in: Gedichte gegen den Krieg, Herausgegeben von Kurt Fassmann, 1961, München, Seite 229

Vision einer anderen Zukunft

24. November 2020

Von Mumia Abu-Jamal

Die Gründerzeit der Vereinigten Staaten war beherrscht vom Zwangssystem der Sklaverei. Diese lastete wie ein Alptraum auf der neuen Nation und verwandelte ihre erklärten Ziele und Ideale in Lügen. Der heutige Gedanke der»Abolition«ist historisch tief verwurzelt in der Forderung nach Abschaffung der Sklaverei. Im Sommer 1776 hatten sich die Delegierten des Zweiten Kontinentalkongresses der britischen Kolonien in Nordamerika in Philadelphia versammelt. Sie verfassten die Unabhängigkeitserklärung, die am 4. Juli 1776 verabschiedet wurde und in der es unter anderem hieß: »Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.«

Die Verfasser gehörten zum Teil der intellektuellen Elite des Landes an, doch ihre Behauptungen über die Ideale der neuen Nation waren voller Widersprüche. Die von Berühmtheiten wie Benjamin Franklin, Thomas Jefferson, Benjamin Rush und John Adams unterzeichnete Unabhängigkeitserklärung enthält Plattitüden wie die, dass »alle Menschen gleich geschaffen sind«, obwohl in den Vereinigten Staaten Menschen mit dunkler Hautfarbe, besitzlose Weiße und ausnahmslos alle Frauen weder selbst wählen noch in Ämter mit politischer Macht gewählt werden konnten. Die Indigenen wurden als Teil einer fernen Wildnis und nicht als Teil der in Gründung befindlichen Nation angesehen.

Die Menschen, die sich im 19. Jahrhundert gegen das expandierende System der Sklaverei zusammengeschlossen haben, wurden Abolitionisten genannt. Sowohl von den Herrschenden als auch von der Presse wurden sie bestenfalls als Sonderlinge, schlimmstenfalls als Verrückte angesehen. Trotz der öffentlichen Meinung unserer Tage war die Sklaverei damals allgegenwärtig wie die Luft zum Atmen. Die Nation war so tief und offen negrophobisch und rassistisch, dass die Vorstellung von einer aus Schwarzen und Weißen bestehenden Gruppe, die gemeinsam gegen die Sklaverei kämpfte, als abwegig angesehen wurde.

Im Oktober 1859 überfiel John Brown, ein Anführer weißer Abolitionisten, zusammen mit 21 Gefährten das Waffenlager der US-Armee in Harpers Ferry, Virginia, um afrikanische Sklaven in den umliegenden Plantagen für ihre Selbstbefreiung zu bewaffnen. Die Aktion war ein Schritt auf dem schicksalhaften Marsch in den Bürgerkrieg, der nach erschütternden Opfern zur Abschaffung der Sklaverei führte.

Auch für Abraham Lincoln, einen der meistbewunderten Präsidenten der Geschichte, waren die Protagonisten des fehlgeschlagenen Angriffs auf Harpers Ferry kaum etwas anderes als Verrückte. Im Februar 1860 distanzierten sich Lincoln und seine Republikanische Partei von ihnen, und seinen Anhängern im Norden versicherte er, weder er noch seine Partei unterstützten die Abolitionisten.

Die Abolitionistenbewegung hatte eine Vision von einer anderen Zukunft. Frederick Douglass, Harriet Tubman und John Brown schmiedeten ein neues Amerika, wie es für frühere Generationen noch unvorstellbar gewesen war. Sie waren ihrer Zeit weit voraus. Heute können wir auf die Lehren aus dem Kampf dieser noblen Bewegung zurückgreifen und lernen, den Kampf von Generation zu Generation fortzuführen, bis alle Menschen frei sind. Wir sind dazu aufgerufen, die heutige Abolitionistenbewegung zu unterstützen, die darauf hinarbeitet, das System niederzureißen, das Millionen von Menschen in Gefängniszellen und Isolationstrakten in diesem Gefangenenhaus der Nationen ihrer Freiheit beraubt.

Übersetzung: Jürgen Heiser

Der zur Veröffentlichung an dieser Stelle gekürzte und leicht bearbeitete Text ist Mumia Abu-Jamals Beitrag zum Onlineprojekt »Abolition for the People«, das der US-Sportler Colin Kaepernick gemeinsam mit dem Onlineportal Level initiierte, um eine Debatte über die Abschaffung rassistischer Polizeigewalt und Masseninhaftierungen auszulösen. (jh)

level.medium.com/abolition-for-the-people-397ef29e3ca5

https://www.jungewelt.de/artikel/391014.vision-einer-anderen-zukunft.html

Dein Jahr für Deutschland – aus Antifa

26. Oktober 2020

Michael Schulze von Glaßer über rechtsextreme Umtriebe in der Bundeswehr

Im Jahr 2019 gab es laut dem Wehrbeauftragten des Bundestags 197 »Meldepflichtige Ereignisse« im Bereich Rechtsextremismus. Gegenüber den Vorjahren ist diese Zahl gestiegen (2017: 167; 2018: 170). Was die Zahlen nicht ausdrücken, ist die zunehmende »Qualität« der rechtsextremen Vorfälle: Es geht nicht mehr nur um extrem rechte Symbolik, sondern um Umsturz- und Bürgerkriegspläne.

Regelmäßige Einzelfälle?

Rechtsextreme Vorfälle in der Armee sind nichts Neues: Die Bundeswehr zieht wie jede Armee seit jeher nationalistisch und gewaltaffine Menschen an. Wie rechtsextrem die Bundeswehr schon immer war und wie sich dies vor allem in den letzten Jahren verstärkt hat, kann anhand des 1996 gegründeten »Kommando Spezialkräfte« (KSK), der Eliteeinheit der Bundeswehr, nachvollzogen werden.

Die Geschichte der Einheit ist eine Abfolge extrem rechter Vorfälle. Eine kurze Chronologie: Bei einer Übung in Vorbereitung auf den Afghanistan-Einsatz sprühten KSK-Soldaten 2001 im Oman ein nachgemachtes Palmensymbol von Adolf Hitlers deutschem Afrika-Korps auf ihren »Wolf«-Geländewagen und posierten für Fotos davor. 2003 schrieb der damalige KSK-Kommandeur Reinhard Günzel einen unterstützenden Brief an den Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, der wegen antisemitischer Äußerungen aus der CDU/CSU-Fraktion ausgeschlossen wurde (Hohmann sitzt heute für die AfD im Bundestag). Günzel wurde in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Dort schrieb er gemeinsam mit einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier ein Buch, welches das KSK in die Tradition mit der Wehrmachts-Spezialeinheit »Brandenburger« setzte. Das Buch erschien im extrem rechten »Pour le Mérite Verlag«. 2008 bedrohte ein KSK-Soldat einen anderen Soldat, der in der armeekritischen Soldatenvereinigung »Darmstädter Signal« aktiv war. Der KSK-Soldat fiel später durch Nähe zur »Identitären Bewegung« und »Reichsbürgern« auf. 2017 wurde bei einer Abschiedsfeier der 2. KSK-Kompanie Rechtsrock-Musik gehört und der »Hitlergruß« gezeigt. 2018 flog ein aus aktiven und ehemaligen Mitgliedern von Bundeswehr und Polizei betriebenes Netzwerk auf, welches für einen »Tag X« einen politischen Putsch plante. Maßgeblich beteiligt war der ehemalige KSK-Soldat André S., alias »Hannibal«. Er war Administrator der Chatgruppen Nord, Ost, Süd, West, Schweiz und Basis sowie lange Zeit Vorstand des Vereins »Uniter«, der militärtaktische Trainings organisierte und zwei eigene paramilitärische Einheiten aufbaute.

Der ebenfalls von rechtsextremen Einflüssen betroffene Bundeswehr-Geheimdienst MAD sieht aktuell 20 mutmaßliche Rechtsextremisten innerhalb des KSK. Allein bei der Elitetruppe werden momentan mindestens 62 Kilogramm Sprengstoff und 48.000 Schuss Munition vermisst.

Das Beispiel »KSK« zeigt aufschlussreich die Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundeswehr. Waren es rund um das Jahr 2000 noch vor allem »nur« rechte Äußerungen und Symbole, so drückt sich das politische Weltbild mittlerweile immer praktischer aus, beziehungsweise praktisches Handeln wird vorbereitet. Ein wie auch immer gearteter und gegen wen auch immer gerichteter Anschlag rechtsextremer Bundeswehr-Soldaten scheint heute jederzeit möglich: Das »Know-how« und die Materialien sind vorhanden.

Die Politik reagiert auf die rechten Entwicklungen nur zögerlich: Ermittlungen laufen schleppend an. Dies ist gerade im Zusammenhang mit dem »Hannibal«-Netzwerk und »Uniter« offensichtlich. Es ermitteln »Sicherheitsbehörden« gegen Leute aus den »eigenen« Reihen: So wurden Beschuldigte etwa vor anstehenden Razzien gewarnt. In der Öffentlichkeit zeigt sich die Bundesregierung hingegen tatkräftig und macht Vorschläge, um den Rechtsextremismus innerhalb der Bundeswehr einzudämmen.

Gegen rechtsextremes Gedankengut nützt eine Wehrpflicht überhaupt nichts. Mitte der 1990er Jahre gingen 85 Prozent der Vorfälle auf das Konto von Wehrdienstleistenden.

Reaktivierung der Wehrpflicht

Ein immer wieder von Politiker*innen favorisierter Vorschlag zur Eindämmung der extrem rechten Entwicklung ist eine Reaktivierung der 2011 ausgesetzten Wehrpflicht. Durch die neuen Rekrut*innen hätte die Bundeswehr eine tiefere Verankerung in der Gesellschaft und würde quasi »demokratisiert«, so die Hoffnung. Die seit Mai 2020 amtierende neue Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), sagte, es tue der Bundeswehr sehr gut, »wenn ein großer Teil der Gesellschaft eine Zeit lang seinen Dienst leistet.« Eine Wehrpflicht erschwere es auch, »dass sich Rechtsextremismus in der Truppe breit macht.« Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte bereits im Sommer 2018 einen Vorstoß für eine 
Reaktivierung der Wehrpflicht gewagt.

Damit würde die Bundesrepublik einem 2013 begonnenen internationalen Trend folgen. Ein Referendum in Österreich bestätigte die dortige Dienstpflicht, in Norwegen dehnte man die Zwangsrekrutierung auf Frauen aus. Ab 2014 reaktivierten die Ukraine, Litauen und Georgien die Kriegsdienstpflicht, 2018 folgte Schweden. In Frankreich startete 2019 der »Service national universel«. Ab 2021 müssen junge Menschen zunächst einen Monat lang in einer zivilen oder militärische Einrichtung Dienst leisten. Nur: Gegen rechtsextremes Gedankengut in Streitkräften nützt eine Wehrpflicht überhaupt nichts, ganz im Gegenteil.

Mitte der 1990er Jahre gingen 85 Prozent der gemeldeten rechtsextremen Vorfälle auf das Konto von Wehrdienstleistenden. Oft wurden rechtsextreme Musik gehört, verfassungswidrige Symbole getragen oder der Hitlergruß gezeigt. Eine Reaktivierung der Wehrpflicht könnte den schon vorhandenen rechtsextremen Kräften innerhalb der Bundeswehr eher noch neuen, jungen Nachwuchs zuführen. Und Einheiten wie das KSK wären von der Wehrpflicht sowieso nicht tangiert. Schon der Gedanke, neue, junge Rekrut*innen hätten in einer strikt hierarchischen Armee so viel Einfluss, diese zu »demokratisieren«, klingt abwegig. Warum also dieser Vorstoß für eine neue Wehrpflicht, wenn es am eigentlichen Problem nichts ändert?

Public Relations Coup

Der Bundeswehr fehlt es an Nachwuchs: Etwa 22.000 Stellen in der deutschen Armee sind unbesetzt. Die seit Jahren mit großem finanziellen Aufwand betriebene Aufrüstung scheitert bisweilen am fehlenden Personal. Der Vorstoß, den Zwangsdienst »Wehrpflicht« zu reaktivieren, stößt in der Öffentlichkeit aber auf viel Kritik. Zudem müsste es, um eine »Wehrgerechtigkeit« herzustellen, eine Verfassungsänderung geben. Das Verteidigungsministerium setzt daher erst einmal weiter auf die »Freiwillige Wehrpflicht«, baut diese aber zunehmend aus.

Am 23. Juli stellte Annegret Kramp-Karrenbauer einen neuen Freiwilligendienst vor. Unter dem Titel »Dein Jahr für Deutschland« können bald jährlich 1.000 junge Menschen ihre siebenmonatige Grund- und Spezialisierungsausbildung bei der Bundeswehr machen. Danach werden sie »heimatnah« in regionalen Reserveeinheit eingesetzt. Über sechs Jahre sollen die jungen Menschen dann für insgesamt fünf Monate an Reserveübungen teilnehmen. Derzeit sind 30 regionale Sicherungs- und Unterstützungskompanien flächendeckend im Bundesgebiet aufgestellt. An der Waffe ausgebildet werden wie immer beim Freiwilligen Wehrdienst schon junge Menschen ab 17 Jahren. Grundvoraussetzung ist die deutsche Staatsbürgerschaft.

Auffällig ist die Werbung für den neuen Dienst: Das Logo besteht aus dem Schriftzug »Dein Jahr für Deutschland« mit Schwarz-Rot-Goldener Applikation. In einem Werbevideo heißt es: »Unser Wir braucht mehr von Dir. Schütze unsere Heimat. Wenn wir dich stark machen, machst du ein ganzes Land stark. Schütze unsere Heimat. Erlebe Kameradschaft. Mit dem Neuen Dienst in deiner Region. Zusammenhalt in Deutschland beginnt bei dir.« Der neue Dienst dürfte also vor allem sehr rechte junge Menschen ansprechen.

Dass diese Verwendung im »Heimatschutz«, also im Inland, juristisch heikel ist, wurde in der Debatte um den neuen Dienst kaum thematisiert: Eine Lehre aus dem Nationalsozialismus war es, dass die Armee nicht im Inland eingesetzt werden darf. Dieser Grundsatz wird seit rund 20 Jahren immer weiter aufgeweicht. Im Rahmen der Coronakrise drohte sogar erstmalig der Einsatz bewaffneter Infanterie im Inland. Soldat*innen des »Jägerbataillon 292«, Teil der »Deutsch-Französischen-Brigade«, sollte sensible Einrichtungen wie Liegenschaften des THW schützen. Der Einsatz wäre verfassungsrechtlich höchst bedenklich gewesen, wurde aber nicht realisiert. In Verruf geriet die Einheit unter anderem auch, weil ihr der 2017 wegen Planung eines rechtsterroristischen Anschlags festgenommene Oberleutnant Franco A. angehörte. Das »Jahr für Deutschland« ist ein weiterer Schritt, Soldat*innen für den Dienst im Inland auszubilden und in Bereitschaft zu haben.

Fazit

Die Bundesregierung nutzt die rechtsextremen Vorfälle als Vorwand, um ein vollkommen anderes Thema, den Nachwuchsmangel der Bundeswehr, anzugehen. Allein schon der Werbetitel für den neuen Freiwilligendienst »Dein Jahr für Deutschland« zeigt, dass die Bundesregierung das Rechtsextremismus-Problem der Armee entweder nicht erkennt oder es bewusst übersieht. Der Dienst spricht politisch rechte junge Menschen gezielt an und wird die Situation noch verschärfen. Rechtsextremist*innen könnten sich bald noch stärker in regionalen Reservekommandos der Bundeswehr verankern. All dies sind sehr bedenkliche Entwicklungen. Michael Schulze von Glaßer ist politischer Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen

Bereits vor über zehn Jahren berichtete Ulrich Sander in der antifa (Sept./Okt. 2009) unter dem Titel »Neu Aufgestellt« über die Neuausrichtung der Bundeswehr und Ausbau der Reserve. 
Weiterhin nachlesbar in unserem Archiv unter antifa.vvn-bda.de«

Am Rande des Aufstands

25. Oktober 2020

Trump stachelt sie an, Polizei und Spezialeinheiten lassen sie gewähren: In den USA treten faschistische Milizen immer offener auf. Der gemeinsame Feind ist die »Black Lives Matter«-Bewegung

Jürgen Heiser in junge Welt vom 20.Oktober 2020

Ende August 2020 schrieb Anne Branigin auf der afroamerikanischen Onlineplattform The Root, es gebe »bestimmte Zahlen, die einem aus dem einen oder anderen Grund ins Gedächtnis eingebrannt« seien. Dazu gehörten beispielsweise die »acht Minuten und 46 Sekunden«, die der inzwischen entlassene und unter Anklage gestellte weiße Polizeibeamte Derek Chauvin aus Minneapolis auf dem Nacken des Schwarzen George Floyd kniete, bis dieser erstickte. Eine weitere Ziffer, »eine einfache, die man sich leicht merken« könne, sei »die Zahl drei« – in dem Vierteljahr seit dem Tod George Floyds am 25. Mai 2020 habe es ganze drei Tage gegeben, an denen keine Opfer tödlicher Polizeigewalt in den USA zu beklagen waren. An jedem anderen Tag gab es im Schnitt drei Todesopfer bei gewaltsamen Polizeiaktionen. Dies hatte der Aktivist und politische Analyst Samuel Sinyangwe am 24. August getwittert. An den bis zu diesem Datum vergangenen 235 Tagen des Jahres 2020 waren bereits 751 Todesopfer durch Polizeigewalt registriert worden. Inzwischen ist die Zahl nach der Statistik des von Sinyangwe 2013 mitbegründeten »Mapping Police Violence« (MPV), einer Initiative zur Beobachtung von Polizeigewalt, bis zum 30. September auf insgesamt 839 Tote angestiegen.

Attacken auf Protestierende

Doch das Land ist weit davon entfernt, das Problem rassistisch und sozialdarwinistisch motivierter Polizeigewalt zu lösen. Im Gegenteil verfestigen sich durch die Innenpolitik der Regierung Donald Trumps die Konfrontationslinien in der Gesellschaft. Soziale und politische Konflikte werden mit Gewalt ausgetragen. Gegen die nach dem Mord an George Floyd erneut erstarkende antirassistische »Black Lives Matter«-Bewegung (BLM) mobilisierte Scharfmacher Trump durch seine Hassreden nicht nur den rassistischen Mob unter seiner Anhängerschaft, sondern neben der Nationalgarde auch militärisch ausgerüstete maskierte Spezialeinheiten unterschiedlichster Bundespolizeitruppen. Sie sollten die über Wochen und Monate andauernden Demonstrationen in der Hauptstadt Washington und in Zentren des Widerstands wie Minneapolis, Portland, Seattle, Los Angeles und New York City zerschlagen. Als Tausende Demonstranten das Weiße Haus belagerten und Trump gegen sie die aus US-Armee und Sicherheitsorganen rekrutierten anonymen »grünen Männer« auffahren ließ, nannte das Newsportal Struggle for Socialism (SfS) dieses Ereignis »Trumps 1. Juni-Putsch«.

Noch während der wachsenden Proteste schoss der weiße Polizist Rusten Sheskey am 23. August 2020 dem Afroamerikaner Jacob Blake in Kenosha (Wisconsin) im Beisein seiner drei Kinder mehrfach in den Rücken. Wie durch ein Wunder überlebte der 29jährige, er wird aber querschnittsgelähmt bleiben. In der Folge dieser erneuten brutalen Polizeigewalt gingen in vielen US-Städten noch mehr Menschen empört auf die Straße. Zwei Tage nach Beginn dieser neuerlichen Proteste marschierten in Kenosha faschistische Milizionäre auf, die demonstrativ ihre automatischen Waffen präsentierten, ohne dass die Polizeikräfte sie daran hinderten. Bald machte das Gerücht die Runde, dass einer der Milizionäre scharf geschossen und dabei die beiden Aktivisten Anthony Huber und Joseph »Jojo« Rosenbaum getötet und einen dritten, Gaige Grosskreutz, verwundet habe.

Im Internet tauchten Videos auf, die den 17jährigen Kyle Rittenhouse mit seinem halbautomatischen Gewehr AR-15 zeigten, wie er am Abend des 25. August die tödlichen Schüsse auf die Demonstranten abgab. Über den Schützen wurde bekannt, dass er als Polizeikadett gedient und über seine Facebook-Seite die Parole »Blue Lives Matter« verbreitet hatte. Das Blau steht für die Farbe der Polizeiuniform, und die Parole war eine Reaktion aus »Law and Order«-Kreisen auf die Kritik der BLM-Bewegung an rassistischer Polizeigewalt. Die Videos zeigten auch, wie Polizeibeamte die bewaffneten Rechten grüßten und ermunterten. Konsequenterweise unternahm niemand von den Sicherheitskräften auch nur den Versuch, Rittenhouse und seine Kumpane festzunehmen, obwohl auch für sie an dem Abend ab 20 Uhr eine Ausgangssperre galt. Rittenhouse konnte nach den tödlichen Schüssen sogar seelenruhig mit seinem geschulterten Sturmgewehr Polizeiketten passieren, obwohl aus der Menge auf ihn gezeigt und gerufen wurde, er habe gerade mehrere Menschen erschossen. Und während das Opfer der Polizeigewalt, der schwerverletzte Jacob Blake, verhaftet und von Polizisten mit Handschellen an sein Krankenhausbett gekettet wurde, schaffte es Rittenhouse, völlig ungehindert in seine zwanzig Meilen entfernte Heimatstadt Antioch (Illinois) zurückzukehren. Erst dort wurde er schließlich verhaftet und später wegen Mordes unter Anklage gestellt.

Wie das Newsportal SfS am 29. August 2020 berichtete, hatte sich Kenoshas Polizeichef Daniel Miskinis geweigert, die tödlichen Schüsse auf Huber und Rosenbaum als Morde zu werten. Sie seien »selbst schuld an ihrem Tod«, da sie sich nach Beginn der Ausgangssperre noch »illegal« auf der Straße befunden hätten. Andererseits fand Miskinis die Selbstjustiz der faschistischen Miliz und ihre Missachtung der Ausgangssperre »in Ordnung«. Sie seien »einfach bewaffnete Zivilisten, die gekommen waren, um ihr verfassungsmäßiges Recht auszuüben und Eigentum vor Plünderern und Brandstiftern zu schützen«.

Laut SfS gehörten die meisten der bewaffneten Milizionäre der »Kenosha Guard« an, einer von dem ehemaligen Stadtrat Kevin Mathewson gegründeten Einheit. Auf seiner Facebook-Seite hatte Mathewson einen »Aufruf zu den Waffen« gegen die BLM-Demonstrationen veröffentlicht. Auf dem rechten Sender Fox News Channel diffamierte der hochdotierte Moderator Tucker Carlson in seiner Talkshow den zum Krüppel geschossenen Jacob Blake als »Schläger«, um gleich darauf den Faschisten Rittenhouse zum aufrechten Patrioten zu erklären: »Sind wir wirklich überrascht darüber, dass Plünderung und Brandstiftung zu Mord führten? Warum reagieren wir schockiert, dass 17jährige mit Waffen die Ordnung aufrechterhalten, wenn niemand sonst es tut?«

Zur Gewalt anstacheln

Tuckers Verständnis und Lob für den »Patrioten« Rittenhouse im Hauptprogramm des Fox News Channel spiegelt exakt die Haltung der Herrschaftsclique um den amtierenden US-Präsidenten wider. Das »viertägige Hassfest«, wie SfS den am 24. August begonnenen Nominierungsparteitag der Republikaner in Charlotte (North Carolina) nannte, fand wegen der Coronapandemie nur am ersten Tag live statt, um Trump von den zugelassenen 336 Delegierten als Kandidaten für die am 3. November stattfindende Präsidentschaftswahl bestätigen zu lassen. An den restlichen drei Tagen wurde die Veranstaltung online fortgesetzt. Viele Redner zeichneten ein apokalyptisches Bild für den Fall, dass Trumps demokratischer Gegner gewinnen sollte. Joseph Biden werde »den Sozialismus einführen, den Amerikanern ihre Waffen wegnehmen und den Polizeibehörden die Finanzierung entziehen«. Es werde Mord und Totschlag in den Städten geben durch »linksextremistischen« Meinungsterror – kurz: die »Zerstörung Amerikas«. Biden sei »eine Marionette der extremen Linken und von ›Black Lives Matter‹«. Allein er, Trump, stehe »zwischen dem amerikanischen Traum und der totalen Anarchie«.

Kyle Rittenhouse, der schon im Januar bei Trumps Kundgebung in Des Moines (Iowa) in der ersten Reihe der begeisterten Anhänger gestanden hatte, fühlte sich zusammen mit seinen Mitstreitern durch die Reden des Parteitags, besonders aber durch Trumps Ermutigung zum Handeln aufgefordert. So griffen sie am zweiten Abend des Parteikonvents zu den Waffen und machten sich auf, die angebliche »totale Anarchie« in den Straßen Kenoshas zu beenden. In Bewunderung für ihren Helden Trump wollten sie endlich zurückschlagen gegen »Black Lives Matter« und diese Bewegung als Speerspitze der größten Mobilisierung gegen das weiße Vorherrschaftsdenken in der Geschichte der USA beenden. Eine bunte Bewegung von zwanzig Millionen Menschen war seit Mai an rund zweitausend Orten in Stadt und Land gegen Rassismus, Polizeigewalt und die Überbleibsel von Kolonialismus und Sklaverei aufgestanden, um endlich die tödliche gesellschaftliche Spaltung aufzuheben. Dagegen wollten Rittenhouse und Co. ins Feld ziehen.

Kein Geringerer als Präsident Trump verteidigte den Schützen Rittenhouse. Der habe in Notwehr gehandelt. »Das war eine interessante Situation«, schwadronierte Trump kryptisch auf einer Pressekonferenz vor seinem Besuch in Kenosha, den er nutzen wollte, um den Sicherheitskräften für ihren Einsatz zu danken. »Äußerst gewalttätig« sei Rittenhouse von Demonstranten angegriffen und »wäre wohl getötet worden«, phantasierte Trump. Beweise für seine Vermutung hatte er keine. Dafür viel Lob für die Polizei. Ihre Reaktion auf die Proteste nannte er »wirklich unglaublich und inspirierend«, denn das seien »keine friedlichen Proteste, sondern inländischer Terror« gewesen. Als schlimmstes Problem machte er dann »die linksgerichtete Indoktrination« in Schulen und Universitäten aus. Dort würden »jungen Amerikanern Lügen beigebracht, Amerika sei ein böses und von Rassismus geplagtes Land«, so Trump.

Ein ermordeter Antifaschist

Die von Inhabern höchster Regierungsämter und in den Medien gerechtfertigten Morde an Demonstranten versetzten die Protestbewegung jedoch nicht in Panik, sondern bestärkten sie darin, sich gegen alle Sorten von »grünen Männern« und Faschisten zu wehren. Auch in Portland traten diese verstärkt auf, um die seit dem Mord an George Floyd im Mai täglich weitergehenden Protestaktionen zu beenden. Dabei wurde am 29. August 2020 das Mitglied einer rechten Miliz erschossen. Nach einem Bericht des Wall Street Journal hatte sich die polizeiliche Suche nach dem Täter schon bald auf den 48jährigen Armeeveteranen und Antifaschisten Michael Reinoehl konzentriert. Am 3. September gegen 23 Uhr(Ortszeit) veröffentlichte das Internetportal Vice News überraschendein Gespräch mit Reinoehl, der freimütig erzählte, er habe bei den Protesten in Portland »für Sicherheit gesorgt«.

In dem Gespräch, das der freie Journalist Donovan Farley für Vice News führte, erklärte Reinoehl, er habe in dem Moment, als er und ein Freund von Faschisten angegriffen wurden, »in Selbstverteidigung gehandelt«. Wie sich später herausstellte, war der Angreifer Aaron »Jay« Danielson von der rechten Gruppe »Patriot Prayer«. Anwälte hätten ihm davon abgeraten, darüber zu sprechen, aber, so Reinoehl, »ich halte es für wichtig, dass die Welt wenigstens etwas von dem erfährt, was hier wirklich vor sich geht«. Er habe in dem Moment keine Wahl gehabt, sagte Reinoehl. »Hätte ich zusehen sollen, wie die meinen farbigen Freund töten? Ich hatte keine Wahl.«

Am Morgen des 4. September um 6.24 Uhr lautete die neue Vice News-Schlagzeile: »In Verbindung mit Schießerei in Portland gesuchter Aktivist soll von der Polizei getötet worden sein«. Noch in der Nacht, wenige Stunden nachdem das Gespräch mit Michael Reinoehl gepostet worden war, hätten Polizisten ihn erschossen. Geschehen sei das im Ort Lacey im Westküsten-Bundesstaat Washington, etwa zwei Stunden entfernt von Portland, »bei dem Versuch, ihn festzunehmen«, so Vice News.

Recherchen der New York Times (NYT), die am 11. Oktober aktualisiert wurden, ergaben jedoch ein anderes Bild. Demnach hatte eine von Bundesagenten geleitete »Sonderfahndungseinheit für Gewalttäter« namens »Pacific Northwest Violent Offender Task Force«, dem »Antifaunterstützer« Reinoehl aufgelauert, als er ein Apartmenthaus verließ und zu einem Wagen ging. Der Augenzeuge Pfarrer Nathaniel Dingess ließ seinen Anwalt verbreiten, was die Zeitung The Oregonian so beschrieb: Er habe gesehen, wie »Beamte mehrere Schnellfeuergarben auf Reinoehl schossen, bevor es einen kurzen ›Stoppbefehl‹ gab, auf den weitere Schnellfeuerstöße durch zusätzliche Beamte folgten«. Trevor Brown, Mieter in einem Nachbarhaus, hatte laut NYT, »mehrere Schüsse gehört und vier Polizeibeamte auf der Straße gesehen«. Dann habe ein Mann auf dem Boden gelegen.

Auch Lieutenant Ray Brady vom Thurston County Sheriff’s Office gab an, dass »vier Beamte ihre Waffen abgefeuert« hätten. »Mr. Reinoehl« habe »eine Handfeuerwaffe bei sich gehabt«, er könne jedoch »nicht bestätigen, dass der damit geschossen« habe. Es gebe auch »keine Aufnahmen von Körperkameras von diesem Vorfall«. Was die Sache suspekt machte, denn gerade zu erwartende schwierige Verhaftungssituationen sollen nach den US-Polizeirichtlinien mit Bodycams dokumentiert werden. Und Reinoehl galt als »Antifa«, gegen ihn lag ein Haftbefehl vor.

Der Erschossene war offenbar auch schon länger im Visier der Sicherheitsbehörden. Er lebte mit seinen beiden heranwachsenden Kindern in der Gegend von Portland und »war in den letzten Wochen bei den Demonstrationen in der Stadt ständig präsent«, um »für die Sicherheit der Demonstranten zu sorgen«, wie die NYT es umschrieb. Er sei »auf der ganzen Linie einhundert Prozent Antifa«, soll er im Juni auf Instagram geschrieben haben, und: »Wir wollen keine Gewalt, aber wir werden auch nicht davor weglaufen!«

Als Reinoehls Tod in Portland bekannt wurde, versammelten sich Hunderte Demonstranten vor einer Polizeiwache und skandierten Parolen. An die Mauern der Wache war »An euren Händen klebt Blut!« und »Ihr habt Michael Reinoehl ermordet« gesprüht worden. Reese Monson, ein Sprecher der Protestbewegung und wie Reinoehl im Ordner- und Sicherheitskollektiv organisiert, sagte, sie alle seien in Deeskalationstechniken geschult. Reinoehl sei »darin ausgezeichnet« gewesen. Er habe die Aufgabe gehabt, »während der Demonstrationen potentielle Provokateure abzufangen und zur Beruhigung von Konflikten beizutragen«, sagten andere Aktive der NYT. »Mike war buchstäblich ein Schutzengel«, erklärte die Aktivistin Teal Lindseth, der bei den Protesten der Kiefer dreifach gebrochen wurde. Reinoehl hätte »jeden beschützt, egal was passiert«.

Leider konnte er sich selbst nicht schützen vor denen, die wie die erwähnte »Taskforce« mit einem klaren Auftrag zu ihm kamen. Sie gehört zu den unter Trump von Heimatschutzminister Chad Wolf aufgestellten Sondereinheiten und setzt sich aus Beamten des U. S. Marshals Service, verschiedenen Polizeistellen und Sheriff Departments sowie einer Spezialeinheit zur Bekämpfung von Gefängnismeutereien des Westküstenstaats Washington zusammen. Nachdem die Sondereinheit Reinoehl erschossen hatten, erklärte US-Justizminister William P. Barr laut NYT: »Die Straßen unserer Städte sind nun wieder sicherer.« Die Regierung Trump habe sich »als fähig erwiesen, Reinoehl aufzuspüren«. Dies sei »ein unmissverständlicher Beweis dafür, dass die Vereinigten Staaten durch das Gesetz regiert werden und nicht durch einen gewalttätigen Mob«, so Barr.

Im Sommer 2020 hatte Barr in seinem Ministerium ein Lagezentrum gegründet, um wegen der Proteste nach dem Mord an George Floyd »Ermittlungen über die Ausbreitung gewalttätiger regierungsfeindlicher Extremisten anzustellen«, wusste die NYT zu berichten. Die Bundespolizei FBI habe zum Bedauern Barrs ihr Augenmerk mehr auf rechte Gewalttäter gerichtet, so das Blatt, aber dem Justizminister sei es »in seinen öffentlichen Erklärungen immer darum gegangen, die Gewalt linken Gruppen und Bewegungen, insbesondere der Antifa, in die Schuhe zu schieben«. Er habe sich damit den ständigen Behauptungen von Präsident Trump angeschlossen, dass es »die Akteure der Linken sind, die zu gewalttätigen Ausschreitungen anstiften«.

Ende Juli 2019 hatte Zeit online gemeldet, US-Präsident Trump habe getwittert, er wolle »Antifagruppen« in den USA »als terroristische Organisationen einstufen« lassen, um »der Polizei ihre Arbeit zu erleichtern« (Siehe jW-Thema vom 26.9.2019). Doch hinter den Kulissen wurde bereits das Gerüst für den Aufbau einer Bürgerkriegsarmee geschaffen, in der sich Spezialeinheiten des Bundes und rechte »patriotische Milizen« auf Sonderaufgaben vorbereiten können. Die gezielte Tötung von Michael Reinoehl, weil er Verteidigungsstrukturen gegen faschistische Gewalttäter organisierte, ist ein Ausdruck dieser gewollten Zusammenarbeit. Für das US-Magazin Counterpunch besteht kein Zweifel, dass Reinoehl, weil er verdächtigt wurde, einen Trump-Anhänger getötet zu haben, »von Bundesagenten auf eine Weise getötet wurde, die man als Attentat bezeichnen könnte«. Das habe öffentlich viel zuwenig Beachtung gefunden. Vor Publikum habe Trump zu der »außergerichtlichen Tötung« gesagt: »Dieser Typ war ein Gewaltverbrecher, und die US-Marshals haben ihn getötet. Und ich sage Ihnen etwas: So muss es sein. Für solche Verbrechen muss es Vergeltung geben.«

Trump und die »Proud Boys«

Im April 2020 hatte Trump seine Unterstützer in einem Tweet aufgefordert: »Befreit Michigan!« und damit Hunderte von Demonstranten ermuntert, das Kapitol des US-Bundesstaates zu stürmen, um die demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer wegen ihrer strikten Maßnahmen gegen die Coronaviruspandemie unter Druck zu setzen. Viele der Eindringlinge gehörten rechten Milizen an und trugen Schusswaffen, mit denen sie Abgeordnete bedrohten. Nach dem Protest weigerte sich Trump, diese Aktion zu verurteilen. Er nannte die Milizionäre »sehr gute Leute« und forderte Whitmer auf, doch »einen Deal« mit ihnen zu machen. Anfang Oktober warf die Gouverneurin Trump aus neuem Anlass auf einer Pressekonferenz vor, er habe »Wut geschürt und jene ermutigt, die Angst, Hass und Spaltung verbreiten«. Da waren nämlich gerade zwei dieser rechten Milizen aufgeflogen, weil sie die von ihnen zur »Tyrannin« erklärte Gouverneurin kidnappen und die Regierung des Bundesstaates stürzen wollten. Dreizehn Milizionäre wurden verhaftet und angeklagt, mit »200 Männern« das Kapitol erneut stürmen und Geiseln nehmen zu wollen. Darunter die Gouverneurin, um sie »noch vor den Präsidentschaftswahlen im November 2020 an einem sicheren Ort wegen Hochverrats anzuklagen«, wie Whitmer erschüttert berichtete.

Das Onlinemagazin Business Insider zitierte die Gouverneurin mit dem Vorwurf an Trump, er habe sich während der ersten Präsidentschaftsdebatte mit seinem Kontrahenten Biden am 29. September geweigert, weiße Rassistengruppen wie die »Proud Boys« ausdrücklich zu verurteilen. Der Präsident sei deshalb »mitschuldig« an extremistischer Gewalt in den USA. Die »Proud Boys« sind nach Informationen der in Montgomery (Alabama) ansässigen Bürgerrechtsorganisation »Southern Poverty Law Center« ein nationalistisches, rassistisches und islamophobes Sammelbecken von Frauenhassern, das Mitglieder des Ku-Klux-Klans, Antisemiten, Rassisten und rechte Milizen zusammenbringt.

Auf die Frage des Moderators der Fernsehdebatte, Chris Wallace, ob er bereit sei, »weiße Rassisten und Milizen zu verurteilen und zu sagen, dass sie sich zurückziehen müssen«, hatte Trump in die Fernsehkameras geblickt und nach kurzem Zögern geantwortet: »›Proud Boys‹, tretet zurück, aber haltet euch bereit! Ich sage euch, irgend jemand muss etwas gegen die Antifa und die Linke unternehmen!« Diese Worte zitierend erklärte Whitmer vor der Presse, die Hassgruppen hätten »die Worte des Präsidenten als einen Schlachtruf, als einen Aufruf zum Handeln« vernommen.

Bislang wollte sich Trump nie zu der Frage äußern, ob er die Macht friedlich übergibt, falls er die Wahl am 3. November verliert. Seine unverhohlene Aufforderung an die »Proud Boys«, sich bereitzuhalten, wurde auch von anderen Gruppen als Aufruf zum Handeln aufgefasst. Denn nun planen rechte Milizen ganz offen, am 3. November bewaffnet vor Wahllokalen zu patrouillieren. Kommentatoren halten deshalb gewaltsame Zusammenstöße mit antifaschistischen Gruppen für möglich und befürchten eine Einschüchterung der wahlwilligen Trump-Gegner.

Stewart Rhodes, Anführer der extrem rechten »Oath Keepers«, sagte der Los Angeles Times (LAT) kürzlich, seine Mitstreiter werden »am Wahltag unterwegs sein, um die Wähler zu schützen«. Er sei besorgt, dass »die radikale Linke die Wähler ins Visier nimmt«. Die »Oath Keepers« (dt. »Die Eidtreuen«) sind eine Miliz aus ehemaligen und aktiven Soldaten und Polizisten, die dafür eintreten, »jeden Befehl zu verweigern, der darauf abzielt, das amerikanische Volk zu entwaffnen«. Sie stehen in der Tradition rechter Milizen, die sich wie die Waffenlobbyisten der National Rifle Association ihr im Zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung garantiertes Grundrecht auf Besitz und Tragen von Waffen nicht nehmen lassen wollen. Die »Oath Keepers« patrouillierten 2014 auch in den Straßen von Ferguson (Missouri) gegen die Proteste nach dem von einem weißen Polizisten verübten Mord an dem schwarzen Teenager Michael Brown. Cassie Miller vom »Southern Poverty Law Center«, sagte der LAT, dass diese Milizionäre »nicht nur die Wähler einschüchtern« wollten, sondern hofften, »die Situation zu chaotisieren«, weil sie »nicht bereit sind, etwas anderes als einen Sieg Trumps zu akzeptieren«.

Der Präsident versuche nicht einmal, seine Absichten zu verbergen, stellt Counterpunch in seiner jüngsten Ausgabe fest. »Medien, liberale Experten und Politiker müssen jetzt in aller Dringlichkeit vermitteln, dass wir am Rande eines Aufstands stehen.« Doch noch hofften zu viele in den USA, Trump allein an den Urnen besiegen zu können. »Sie sind sich leider nicht bewusst, wie weit er bereit ist zu gehen, um an der Macht zu bleiben.« Jahrelang hätten sie sich »von der Rhetorik liberaler Führer einlullen lassen, dass ihr Kreuz auf dem Wahlzettel ein probater Ersatz für nachhaltiges politisches Organisieren« sein könne. »Das ist es jedoch nicht«, so der Kommentar in Counterpunch, »und vielleicht werden wir erst am Wahltag herausfinden, wie unzureichend diese Art der Verteidigung gegen Trumps Machtergreifung ist«.

https://www.jungewelt.de/artikel/388671.usa-vor-den-wahlen-am-rande-des-aufstands.html

Für Frieden und Abrüstung – Keine Bundeswehr im Wuppertaler Gesundheitsamt

16. Oktober 2020

Walter Bauer: Postkarte an junge Menschen (1957)

Gebt nicht nach, wie wir getan haben,

Folgt den Verlockungen nicht, denkt nach, verweigert,

Verweigert, lehnt ab.

Denkt nach, eh ihr Ja sagt,

Glaubt nicht sofort, glaubt auch dem Einleuchtenden nicht,

Glauben schläfert ein, und ihr sollt wach sein.

Fangt mit einem weißen Blatt an, schreibt selber die ersten Worte,

Laßt euch nichts vorschreiben.

Hört gut zu, hört lange zu, aufmerksam,

Glaubt der Vernunft nicht, der wir uns unterwarfen.

Fangt mit der stummen Revolte des Nachdenkens an, prüft

Und verwerft.

Bildet langsam das Ja eures Lebens.

Lebt nicht wie wir.

Lebt ohne Furcht.

In: Gedichte gegen den Krieg, herausgegeben von Kurt Fassmann, 1961, München, Seite 248

Für Frieden und Abrüstung – Keine Bundeswehr im Wuppertaler Gesundheitsamt

13. Oktober 2020

Kurt Tucholsky: Drei Minuten Gehör (1922)

Drei Minuten Gehör will ich von euch, die ihr arbeitet -!

———————————

Von euch, die ihr den Hammer schwingt,

von euch, die ihr auf Krücken hinkt,

von euch, die ihr die Feder führt,

von euch, die ihr die Kessel schürt,

von euch, die mit den treuen Händen

dem Manne ihre Liebe spenden –

von euch, den Jungen und den Alten -:

Ihr sollt drei Minuten innehalten.

Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern.

Wir wollen uns einmal erinnern.

———————————–

Die erste Minute gehört dem Mann.

Wer trat vor Jahren in Feldgrau an?

Zu Hause die Kinder – zu Hause weint Mutter …

Ihr: feldgraues Kanonenfutter -!

Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben.

Da saht ihr keinen Fürstenknaben:

der soff sich einen in der Etappe

und ging mit den Damen in die Klappe.

Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt.

Wart ihr noch Gottes Ebenbild?

In der Kaserne – im Schilderhaus

wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus.

Der Offizier war eine Perle,

aber ihr wart nur „Kerle“!

Ein elender Schieß- und Grüßautomat.

„Sie Schwein! Hände an die Hosennaht -!“

Verwundete mochten sich krümmen und biegen:

kam ein Prinz, dann hattet ihr stramm zu liegen.

Und noch im Massengrab wart ihr die Schweine:

Die Offiziere lagen alleine!

Ihr wart des Todes billige Ware …

so ging das vier lange blutige Jahre.

Erinnert ihr euch?

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Die zweite Minute gehöre der Frau.

Wem wurden zu Haus die Haare grau?

Wer schreckte, wenn der Tag vorbei,

in den Nächten auf mit einem Schrei?

Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen,

der anstatt in langen Polonaisen,

indessen Prinzessinnen und ihre Gatten,

alles, alles, alles hatten – – ?

Wem schrieben sie einen kurzen Brief,

daß wieder einer in Flandern schlief?

Dazu ein Formular mit zwei Zetteln …

wer mußte hier um die Rente betteln?

Tränen und Krämpfe und wildes Schrein.

Er hatte Ruhe. Ihr wart allein.

Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel,

euch in die Arme zurück als Krüppel.

So sah sie aus, die wunderbare

große Zeit – vier lange Jahre …

Erinnert ihr euch -?

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Die dritte Minute gehört den Jungen!

Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen!

Ihr wart noch frei, Ihr seid heute frei!

Sorgt dafür, daß es immer so sei!

An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertraun

Von Millionen deutschen Männern und Fraun.

I h r sollt nicht stramm stehn. I h r sollt nicht dienen!

Ihr sollt frei sein! Zeigt es ihnen!

Und wenn sie euch kommen und drohn mit Pistolen -:

Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen!

K e i n e Wehrpflicht! K e i n e Soldaten!

K e i n e Monokel-Potentaten!

K e i n e Orden! K e i n e Spaliere!

K e i n e Reserveoffiziere!

Ihr seid die Zukunft!

——————————————–Euer das Land!

Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!

Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!

Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei

Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg -!

Nie wieder Krieg !

Gedichte gegen den Krieg, herausgegeben von Kurt Faßmann, München 1961, Seite 122 ff.

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