Genau hinschauen

8. November 2022

Von Sebastian Schröder

Worin liegt die Einzigartigkeit des Holocaust

In welchem Verhältnis steht der Holocaust zu anderen historischen Verbrechen, zu kolonialen Völkermorden? Ist die Ermordung der europäischen Juden einzigartig, oder ist dies ein Genozid, der der kolonialen Logik folgt? Darum geht es im sogenannten Neuen Historikerstreit; 2021 stehen sich postkoloniale Theorie und Holocaustforschung unversöhnlich gegenüber. Die Bedeutung der Ereignisse und deren Aufarbeitung bzw. Nichtaufarbeitung, ihre Rolle in der Gegenwart und Schlussfolgerungen daraus für Politik und Zukunft sind umkämpft.

Der schmale Sammelband enthält Beiträge von Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner. Alle beziehen sich auf den Artikel »Katechismus der Deutschen« des Genozidforschers Dirk Moses. Die prominenten Fachhistoriker:innen präsentieren – im Widerspruch zu Moses – zentrale Argumente der Singularitätsthese.

Die christliche Tradition der Stigmatisierung jüdischer Menschen transformiert sich am Ende des 19. Jahrhunderts, um schließlich im Faschismus den Tod aller Juden systematisch zu organisieren. Darin liegt die Einzigartigkeit des Holocaust begründet. Das Verhältnis zu Israel könne vor diesem Hintergrund nach Meinung der Autor:innen nur uneingeschränkt solidarisch sein.

Die Geschichte der Erinnerungskultur der BRD rekonstruiert Norbert Frei in »Deutsche Vergangenheit und postkoloniale Katechese«. Ausgangspunkt seines Textes ist die Rede von Bundespräsident Theodor Heuss zur Eröffnung der Gedenkstätte Bergen-Belsen 1952. Hier bekennt sich Heuss an mehreren Stellen zur Verantwortung der Deutschen, redet von Grausamkeit der Verbrechen, von Schwere der Schuld und Scham angesichts der Gewalt, vor allem gegenüber jüdischen Menschen. Doch es gibt eine seltsame Leerstelle bei Frei. Die Rede »Das Mahnmal« von Heuss liegt in »Ernte der Zeit – Eine Auswahl aus seinen Schriften« und einem weiteren Buch vor. Frei gibt als Literatur jedoch nur die amtliche Veröffentlichung des Presse- und Informationsamtes von 1952 an. Dieser Artikel ist nahezu unmöglich als Quelle erhältlich. Warum? Vielleicht, weil Heuss nicht nur die deutsche Schuld thematisiert, sondern auch sagt, was in seinen Augen zur Ermordung der Juden geführt hat, nämlich »sozioökonomische Konkurrenzgefühle«. Und in klarer zivilisationskritischer Manier führt er in gestelzten Worten aus, dass sich der Holocaust nur zufällig in Deutschland ereignet hat: »Und dies ist unsere Scham, dass sich solches im Raum der Volksgeschichte vollzog.« Es gilt: die Debatte nicht schematisch betrachten, sondern bei jedem Beitrag genau hinschauen!