Rede zum 1. September / 8. Mai 2021 auf dem Friedhof Norrenberg
2. September 2021
Von Sebastian Schröder, VVN-BdA Wuppertal
Sehr geehrte Damen und Herren
Wir haben uns an den Gräbern der polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern versammelt. Sie wurden wie tausende andere nach Wuppertal verschleppt, und ihr Lebensweg endete hier, in der Fremde, ausgebeutet, gequält und schliesslich direkt oder indirekt ermordet.
Wir gedenken heute sowohl des Kriegsbeginns als auch des Kriegsendes.
Nicht nur die Hoffnung des 8. Mai 1945, sondern auch Angst, Entsetzen und Verzweiflung des 1. September 1939 sehen wir heute.
Damals wie heute gilt: Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus!
Wir stehen an den Gräbern der Verschleppten und fragen:
Wurden die antifaschistischen Hoffnungen des 8. Mai 1945 erfüllt?
Wurden die unzähligen Verbrechen gesühnt, die seit dem 30. Januar 1933 durch den Faschimus an der Macht begangen wurden?
Leider haben sich die Hoffnungen auf Gerechtigkeit und Bestrafung der Täter nicht erfüllt, wie die Geschichte der Bundesrepublik und auch Wuppertals zeigt. Viele der Täter haben weiter die faschistische Ideologie verbreitet und die alten Netzwerke erhalten, modernisiert und ausgebaut.
Wir nennen Generalleutnant Theodor Tolsdorff, der ab 1947 hier in Heckinghausen gelebt hat.
1909 in Ostpreußen als Sohn einer Gutsbesitzerfamilie geboren, wurde Tolsdorff im Faschismus Soldat in der 1. Ostpreußische Infanteriedivision. Dies war eine populäre Armeegliederung, 1935 hervorgegangen aus der Reichswehr und dem klassischen preußischen Militarismus. Die 1. Ostpreußische Infanteriedivision ist das zentrale Symbol für die Schaffung der faschistischen Wehrmacht, Symbol der Aufrüstung und der Wiedereinführung der Wehrpflicht. Alles diente dem Ziel des Krieges Deutschlands gegen seine Nachbarn. 1934, noch vor der offiziellen Schaffung der Wehrmacht, wurde sogar ein moderner Lehr- und Propagandafilm über die 1. Ostpreußische Infanteriedivision gedreht. Die Division war das Aushängeschild der neuen Wehrmacht, das Zeichen der Kontinuität von Preußen, Kaiserreich und NS-Staat. Auch Wilhelm Prinz von Preußen, einer der Söhne von Exkaiser Wilhelm der 2. war hier Soldat.
Die Division beteiligte sich 1939 am Angriff auf Polen. 1939/1940 war sie für 6 Monate in Wuppertal stationiert, in Wartestellung für den Einsatz in Frankreich. So auch Theodor Tolsdorff, der hier seine zukünftige Ehefrau kennenlernte.
Diese Befehlshaber der 1. Ostpreußischen Infanteriedivision waren an Kriegsverbrechen beteiligt:
Generalfeldmarschall Georg von Küchler war im Dezember 1941 in der Sowjetunion verantwortlich für die Ermordung von 230 psychisch kranken Frauen in der Anstalt Maskarewkaj Pustin und wurde hierfür im Nürnberger OKW-Prozess durch die Alliierten verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, dass er auch die Ermordung weiterer 1200 psychisch kranker Menschen in Nikolskoje Ende 1941 befohlen hatte.
Generalleutnant Ernst-Anton von Krosigk war beteiligt an den Planungen des Massakers von Kamenez-Podolsk, bei dem im August 1941 23.600 jüdische Menschen ermordet wurden.
Und Theodor Tolsdorff: Die Nazi-Propaganda hatte ihn zum prominenten Kriegshelden aufgebaut und ihm den Namen „Löwe von Wilna“ verpasst. Er ist eine Figur von Joseph Goebbels, der sogenannte „tolle Tolsdorff“. Er war der jüngste kommandierende General des Herres, einer von nur 27 Soldaten mit dem Orden „Ritterkreuz – Eichenlaub mit Schwertern und Brillanten“, verliehen durch Hitler persönlich.
Theodor Tolsdorff tötete am 3. Mai 1945 in der Nähe von Traunstein in Bayern Franz Holzhey, nur zwei Stunden bevor die US-Armee den Ort befreite. Holzhey hatte zum Schutz des Krankenhauses vor amerikanisches Beschuss ein Rot-Kreuz-Schild aufgestellt. Tolsdorff wollte Holzhey als Strafe dafür hinrichten lassen, doch das Erschießungskommando der Wehrmacht verweigerte den Befehl, so dass Tolsdorff den Gefangenen selbst erschoss.
Nach der Befreiung bleibt der prominente Offizier Tolsdorff 2 Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und zieht dann nach Wuppertal, in die Heimatstadt seiner Ehefrau und ihrer Familie.
1952 wird Tolsdorff in seiner Wohnung wegen der Ermordung von Franz Holzhey verhaftet. Drei Prozesse werden in Traunstein in Bayern geführt, nach der Verurteilung 1954 folgen 1958 Teilamnestie und 1960 schliesslich Revision und Freispruch. Juristisch Winkelzüge konstruieren Tolsdorffs Unschuld. Im ersten und aufsehenerregenden Prozess stellt sich General Kesselring als Zeuge auf die Seite Tolsdorffs. Antifaschistische Proteste begleiten die Verfahren in Traunstein und müssen den Freispruch als weiteres Nachkriegsunrecht der BRD hinnehmen. Der „tolle Tolsdorff“ bleibt frei und ist rehabilitiert.
Er nutzt die Zeit, wird Mitglied im Bundesvorstand der reaktionären Ostpreußischen Landsmannschaft, erhält als höchste Auszeichnung des Vertriebenenverbandes 1977 das sogenannte Preußenschild, und pflegt in diesem Milieu sein Image als Haudegen und aufrechter Soldat.
Und Tolsdorff organisiert und führt die Kameradschaft der ehemaligen Soldaten der 1. Ostpreußischen Infanteriedivision an, die sich regelmäßig in Wuppertal trifft.
Bei seiner Beerdigung 1978 auf dem Friedhof an der Heckinghauser Straße sind nicht nur hohe Funktionäre der Ostpreußischen Landsmannschaft zugegen, sondern auch Günther Pape ist dort. Der Generalmajor der Bundeswehr war wie Tolsdorff Wehrmachtsgeneral und Propaganda-Held, einer von Goebbels‘ berühmten jungen Generalen der Wehrmacht. Auf dem Foto der Ordensverleihung durch Hitler 1943 stehen Tolsdorff und Pape nebeneinander. Sie sind auf dem gleichen Foto! Natürlich wird vom BRD-Verteidigungsministerium ein Kranz zu Ehren des Verstorbenen niedergelegt.
Am Arrenberg hat die Familie Von der Heydt 1913 ein nationalistisches Denkmal gestiftet, anlässlich der 100-jährigen Wiederkehr der sogenannten Völkerschlacht von Leipzig. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde, vor allem für die Jugend, ein Hass- und Kriegsort etabliert. 1914 wurde hier der Ehrenfriedhof für die Elberfelder Soldaten angelegt. Die Königshöhe wurde zum Wallfahrtsort der Deutschnationalen, Völkischen und Faschisten. Es ist verbürgt, dass bereits 1924 dort ein Aufmarsch der SA stattgefunden hat.
Und genau hier hat im September 1959 die Kameradschaft der 1. Otpreußischen Infanteriedivision einen Gedenkstein zu ihren eigenen Ehren errichtet. Warum Wuppertal? Weil sie hier 1939 bis 1940 viele Monate für die sogenannte Ausbildungszeit in Nächstebreck einquartiert waren, und weil Wuppertal Wohnort von Tolsdorff ist, des Stars der Division.
Es gibt ein eigenes Festprogramm: Ein Vertreter der Stadt spricht, das Musikkorps der Bundeswehr spielt „Ich hat einen Kameraden“ und das Deutschlandlied. In den Reden wird die reaktionäre Agenda der Vertriebenen präsentiert. Hochrangige Divisionsangehörige schildern ihr eigenes Verhalten im Krieg als ehrenwert und untadelig mit den Worten „entsagungsvolle Pflichterfüllung für Volk und Heimat“. Bis tief in die Nacht feiern die Soldaten. Von 1951 bis 1970 finden nun fast jährlich Treffen der gut organisierten Kameradschaft in Wuppertal statt. Seit 1960 am Stein mit Kranzniederlegungen, und auch in kleinem Kreis, etwa am 14. Mai 1977.
Bis in unsere Zeit wird Tolsdorff verehrt und der Stein als Versammlungsort genutzt.
In der neurechten Preußischen Allgemeinen Zeitung, sie ist verbunden mit den Vertriebenenverbänden, wird zum 100. Geburtstag Tolsdorffs im Jahr 2009 erneut der Mythos des ehrlichen ostpreußischen Haudegens bemüht. Und auch Franz Holzhey wird wieder verleumdnet. Der Mann, dem Tolsdorff aus nächster Nähe in den Kopf geschossen hat, wird als „fahnenflüchtiger Offizier“ bezeichnet, der „unter Missbrauch der Rot-Kreuz-Flagge Kontakt zum Feind“ aufgenommen habe. Der Autor jubelt über den „Freispruch erster Klasse“, unterlegt mit einem Propagandafoto von Tolsdorff aus dem zeitungseigenen Archiv.
Und im November 2009 werden Kränze am Arrenberg niedergelegt, von der Frauenarbeitsgemeinschaft Wuppertal im Bund der Vertriebenen, dem Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr und den Kameradschaften der 1. Ostpreußischen Infanteriedivision. Der sogenannte Kameraden- und Freundeskreis besteht weiterhin. Ob es Ansprachen gab und gefeiert wurde, ist nicht bekannt.
„Der Vergangenheit – der Zukunft“ heisst drohend die Inschrift am Arrenberg
Wir sagen nein!
Nein zu diesem rechten Kult!
Nein zur rechten Wallfahrtsstätte am Arrenberg!
Wir wollen keinen Hass, wir wollen Zukunft, wir wollen Frieden!
Wir möchten alle Menschen, Organisationen und Institutionen einladen zum Projekt Baum des Friedens.
Lassen Sie uns gemeinsam bis zum 8. Mai 2025 einen neuen Mahn- und Gedenkort in Wuppertal schaffen, wie es ihn schon in so vielen Städten und Gemeinden gibt.
Schaffen wir in Wuppertal einen Ort, der unseren Willen zum friedlichen und solidarischen Miteinander zeigt.
Wir möchten die Bürger*innen, die Zivilgesellschaft, die Institutionen, den Oberbürgermeister und die demokratischen Parteien aufrufen:
Lassen Sie uns auch in unserer Stadt einen Friedensbaum pflanzen.