80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion
20. Juni 2021
Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 22. Juni 1941 – Auszüge
(…) Was nun folgte, was am 22. Juni 1941 begann, war die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Radikalisierung eines Krieges hin zum Wahn totaler Vernichtung. Vom ersten Tage an war der deutsche Feldzug getrieben von Hass: von Antisemitismus und Antibolschewismus, von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion.
Die diesen Krieg führten, töteten auf jede erdenkliche Weise, mit einer nie dagewesenen Brutalität und Grausamkeit. Die ihn zu verantworten hatten, die sich in ihrem nationalistischen Wahn gar noch auf deutsche Kultur und Zivilisation beriefen, auf Goethe und Schiller, Bach und Beethoven, sie schändeten alle Zivilisation, alle Grundsätze der Humanität und des Rechts. Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei.
So schwer es uns fallen mag: Daran müssen wir erinnern! Und wann, wenn nicht an solchen Jahrestagen? Die Erinnerung an dieses Inferno, an absolute Feindschaft und die Entmenschlichung des Anderen – diese Erinnerung bleibt uns Deutschen eine Verpflichtung, und der Welt ein Mahnmal.
Hunderttausende sowjetische Soldaten sind schon in den ersten Monaten des Krieges, im Sommer 1941, gefallen, verhungert, erschossen worden.
Unmittelbar mit dem Vormarsch der deutschen Truppen begann auch die Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder durch Erschießungskommandos des SD, der SS und ihrer Hilfstruppen.
Hundertausende Zivilisten in der Ukraine, in Belarus, in den baltischen Staaten und in Russland wurden Opfer von Bombenangriffen, wurden als Partisanen unerbittlich gejagt und ermordet. Städte wurden zerstört, Dörfer niedergebrannt. Auf alten Fotografien ragen nur noch verkohlte steinerne Kamine aus einer verwüsteten Landschaft.
Es werden am Ende 27 Millionen Tote sein, die die Völker der Sowjetunion zu beklagen hatten. 27 Millionen Menschen hat das nationalsozialistische Deutschland getötet, ermordet, erschlagen, verhungern lassen, durch Zwangsarbeit zu Tode gebracht. 14 Millionen von ihnen waren Zivilisten.
Niemand hatte in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der damaligen Sowjetunion. Und doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid, und unsere Verantwortung, es fordern.
Dieser Krieg war ein Verbrechen – ein monströser, verbrecherischer Angriffs- und Vernichtungskrieg. Wer heute an seine Schauplätze geht, wer Menschen begegnet ist, die von diesem Krieg heimgesucht wurden, der wird an den 22. Juni 1941 erinnert – auch ohne Gedenktag und Mahnmal.
Spuren dieses Krieges finden sich in alten Menschen, die ihn als Kinder erlebten, und in den jüngeren, in ihren Enkeln und Urenkeln. Man findet sie von der Weißmeerküste im Norden bis zur Krim im Süden, von den Ostsee-Dünen im Westen bis Wolgograd im Osten. Es sind Zeichen des Krieges, Zeichen der Zerstörung, Zeichen des Verlustes.
Zurück blieben Massengräber – „Brudergräber“, wie man auf Belarusisch, Ukrainisch und Russisch sagt.
Das Morden ging in der Etappe weiter. Der Wehrmachtssoldat Paul Hohn, stationiert im belarusischen Berasino, notiert am 31. Januar 1942 in seinem Tagebuch: „Es ist 15 Uhr. Seit einer Stunde werden alle noch hier wohnenden Juden, 962 Personen, Frauen, Greise und Kinder erschossen. […]. Endlich. Ein Kommando von 20 Stapos vollzieht die Aktion. 2 Mann schießen immer in Abwechslung. Die Juden gehen im Gänsemarsch […] durch den Schnee […] zur Grube, in die sie hintereinander hineinsteigen und der Reihe nach im Liegen erschossen werden. […] So wird die Pest ausgerottet. Vom Fenster meiner Arbeitsstelle ist das Ghetto auf 500 m zu sehen und Schreie und Schüsse gut wahrnehmbar. Schade, dass ich nicht dabei [bin].“
Jeder Krieg bringt Verheerung, Tod und Leid. Doch dieser Krieg war anders.
Es war deutsche Barbarei. Er hat Millionen Menschenleben gekostet, er hat den Kontinent verwüstet, und er hat – in seiner Folge – die Welt über Jahrzehnte geteilt.
(…) Schauen wir überhaupt dorthin, in den viel zu unbekannten Osten unseres Kontinents?
Wer in Deutschland kennt Malyj Trostenez bei Minsk, wo zwischen 1942 und 1944 mindestens 60.000 Menschen ermordet worden sind? Oder das Dörfchen Chatyn, das im Sommer 1943 dem Erdboden gleichgemacht, und sämtliche Einwohner getötet wurden – die Hälfte von ihnen Kinder? Wer weiß von Korjukiwka in der Nordukraine, wo innerhalb von zwei Tagen 6.700 Männer, Frauen und Kinder der größten und brutalsten Strafaktion des Zweiten Weltkrieges zum Opfer fielen?
Wer kennt die Stadt Rshew, unweit von Moskau, wo die Rote Armee in einer nicht enden wollenden Schlacht – allein dort – mehr als eine Million Tote und Verwundete zu beklagen hatte?
Wer kennt das Städtchen Mizocz, vor dessen Toren die jüdischen Bewohner an einem einzigen Tag erschossen wurden, am 14. Oktober 1942? Nur noch fünf Fotografien des deutschen Gendarmen Gustav Hille erinnern an den Ort des Verbrechens, der heute eine sanfte, hügelige Wiesenlandschaft ist.
„Stille und Schweigen liegen über den Toten, die unter den eingestürzten, von Gras überwucherten Heimstätten begraben sind. Die Stille ist schlimmer als Tränen und Flüche.“So schreibt Wasili Grossman im Herbst 1943.
Doch über der Stille kann man sie hören: die Geschichten der Überlebenden, der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der vertriebenen und um ihr Hab und Gut beraubten Zivilisten, der Rotarmisten, die die Wehrmacht zurückdrängen und bezwingen sollten. (…)
Ja, dieser Krieg wirft einen langen Schatten, und in diesem Schatten stehen wir bis heute.
In einem Brief an seine Frau schreibt Helmuth James Graf von Moltke, der im August 1941 in der Völkerrechtsabteilung im Oberkommando der Wehrmacht arbeitet, „die Nachrichten aus dem Osten sind wieder schrecklich.“[…]„Hekatomben von Leichen“liegen„auf unseren Schultern“. Immer wieder höre man Nachrichten von Gefangenen- und Judentransporten, von denen nur zwanzig Prozent ankämen. Immer wieder höre man, dass in Gefangenenlagern Hunger herrsche, Typhus und andere Mangelepidemien.
Der Krieg, von dem von Moltke berichtet hat, ließ jedes menschliche Maß hinter sich. Aber es waren Menschen, die ihn erdacht und vollstreckt haben. Es waren Deutsche.
Und so hinterlässt er uns – Generation um Generation aufs Neue – die quälende Frage: Wie konnte es dazu kommen? Was haben unsere Vorfahren gewusst? Was haben sie getan?
Nichts, was damals weit im Osten geschah, geschah zufällig. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei, des SD, der Waffen-SS und ihrer Helfer bahnten sich nicht planlos und brandschatzend ihren Weg. Sie folgten dem Vernichtungswahn und den mörderischen Plänen, die im Reichssicherheitshauptamt und in den zuständigen Reichsministerien erarbeitet worden sind. Und sie folgten der Wehrmacht, deutschen Soldaten, die zuvor schon die Bevölkerung beraubt, drangsaliert oder als vermeintliche Partisanen getötet hatte. Der verbrecherische Angriffskrieg trug die Uniform der Wehrmacht. An seinen Grausamkeiten hatten auch Soldaten der Wehrmacht teil. Lange, zu lange haben wir Deutsche gebraucht, uns diese Tatsache einzugestehen.
Die Pläne, denen die deutschen Soldaten folgten, hießen „Generalplan Ost“, „Hunger- oder Backe-Plan“, und erhoben Unmenschlichkeit zum Prinzip. Es waren Pläne, die das Ausbeuten und Aushungern von Menschen, ihre Vertreibung, Versklavung und schließlich ihre Vernichtung zum Ziel hatten.
Beamte im Reichssicherheitshauptamt planten mit zynischer Sorgfalt die Vernichtung. Sie planten einen Krieg, der die gesamte sowjetische Bevölkerung – die gesamte sowjetische Bevölkerung – zum Gegner erklärte: vom Neugeborenen bis zum Greis. Dieser Gegner sollte nicht nur militärisch geschlagen werden. Er sollte den Krieg, der ihm aufgezwungen wurde, selbst bezahlen, mit seinem Leben, seinem Besitz, mit allem, was seine Existenz ausmachte. Der gesamte europäische Teil der Sowjetunion, ganze Landstriche der heutigen Ukraine und Belarus‘, sollten – ich zitiere aus den Befehlen – „gesäubert“ werden, und vorbereitet für eine deutsche Kolonisierung. Millionenstädte wie Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, Moskau oder Kiew sollten dem Erdboden gleichgemacht werden.
Auch die sowjetischen Kriegsgefangenen sah man nicht als Gefangene. Sie waren keine Kameraden – in dieser Sicht. Sie wurden ihres Menschseins beraubt – entmenschlicht. Die Wehrmacht, die die Verantwortung für die Gefangenen trug, hatte nicht die Absicht, sie zu ernähren, sie „durchzufüttern“, wie es damals hieß. Und die deutsche Generalität widersprach Hitlers Absicht nicht, die Wehrmacht zu Vollstreckern dieses Verbrechens zu machen. „Nichtarbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern.“ So angeordnet vom Generalquartiermeister des deutschen Heeres im November 1941.
(…)
In der Ausstellung, die wir heute hier eröffnen, kann man ein scheinbar harmloses Foto sehen. Es zeigt hunderte Bäume, die in den Himmel ragen. Bei genauem Hinsehen erkennt man: Es sind Bäume ohne Blätter, ohne Zweige, ohne Rinde. Sowjetische Kriegsgefangene haben sie mit bloßen Händen von den Stämmen gekratzt, um nicht den Hungertod zu sterben. Das Foto vermittelt uns eine Ahnung vom Grauen dieser Lager. Es stammt aus Schloss Holte-Stukenbrock in Ostwestfalen. Auch ein Ort dieser Verbrechen, nur eben nicht weit im Osten, sondern keine Stunde von meinem Heimatort entfernt – von dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, und wo ich in meiner Schulzeit auch nichts erfahren habe über das, was weniger als zwei Jahrzehnte vorher dort geschehen war.
(…)
Doch die Verbrechen, die von Deutschen in diesem Krieg begangen wurden, lasten auf uns. Auf den Nachkommen der Opfer ebenso wie auf uns, der heutigen Generation. Bis heute. Es lastet auf uns, dass es unsere Väter, Großväter, Urgroßväter sind, die diesen Krieg geführt, die an diesen Verbrechen beteiligt waren. Es lastet auf uns, dass zu viele Täter, die schwerste Schuld auf sich geladen hatten, nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Es lastet auf uns, dass wir den Opfern im Osten unseres Kontinents viel zu lange Anerkennung, auch Anerkennung durch Erinnerung, verwehrten.
(…)
Wer Licht in diese Erinnerungsschatten bringen will, der muss keine weite Strecke zurücklegen – sie finden sich vor unserer Haustür. Es sind nicht nur die ehemaligen Kriegsgefangenenlager wie Stukenbrock in Westfalen oder Sandbostel in Niedersachsen, das ich vor wenigen Tagen besucht habe. Es gibt in Deutschland über 3.500 Grabstätten sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener. Das Museum Karlshorst hat all diese Orte zusammengetragen und eine Landkarte erarbeitet. So wie die Gedenkstätten des Zweiten Weltkrieges im Westen besucht werden, so würde ich mir wünschen, dass junge Menschen auch die vergessenen Orte im Osten unseres Kontinents aufsuchen. Das wäre ein so wichtiger Beitrag für gemeinsames Erinnern.
Niemandem fällt es leicht, sich die Schrecken der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, natürlich nicht. Aber verdrängte Erinnerung, nicht eingestandene Schuld wird niemals leichter, im Gegenteil, sie wird zu einer immer schwereren Last.
Wir sollten uns erinnern, nicht, um heutige und künftige Generationen mit einer Schuld zu belasten, die nicht die ihre ist, sondern um unserer selbst willen. Wir sollten erinnern, um zu verstehen, wie diese Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt. Nur wer die Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart lesen lernt, nur der wird zu einer Zukunft beitragen können, die Kriege vermeidet, Gewaltherrschaft ablehnt und ein friedliches Zusammenleben in Freiheit ermöglicht.
Und deshalb sollten wir wissen, dass Orte wie Mizocz, Babyn Jar und Korjukiwka in der Ukraine, wie Rshew in Russland, wie Malyj Trostenez und Chatyn in Belarus, dass diese vergessenen Orte auch Orte deutscher Geschichte sind.
Dass nach allem, was geschehen ist, Deutsche heute von den Menschen in Belarus, in der Ukraine oder Russland – gerade an diesen Orten – gastfreundlich empfangen werden, dass sie willkommen sind, dass man ihnen warmherzig begegnet – das ist nicht weniger als ein Wunder.
(…)
Meine Bitte ist: Machen wir uns an diesem Tag, an dem wir an Abermillionen Tote erinnern, auch gegenwärtig, wie kostbar die Versöhnung ist, die über den Gräbern gewachsen ist.
Aus dem Geschenk der Versöhnung erwächst für Deutschland große Verantwortung. Wir wollen und wir müssen alles tun, um Völkerrecht und territoriale Integrität auf diesem Kontinent zu schützen, und für den Frieden mit und zwischen den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu arbeiten.
(…)
Ich mache mir große Sorgen, dass die leidvolle Geschichte, an die wir heute erinnern, selbst mehr und mehr zur Quelle von Entfremdung wird. Wenn der Blick zurück auf eine einzige, nationale Perspektive verengt wird, wenn der Austausch über unterschiedliche Perspektiven der Erinnerung zum Erliegen kommt oder er verweigert wird, dann wird Geschichtsschreibung zum Instrument neuer Konflikte, zum Gegenstand neuer Ressentiments. Und deshalb bleibt meine Überzeugung: Geschichte darf nicht zur Waffe werden!
Denn uns eint doch dies: Wir erinnern nicht mit dem Rücken zur Zukunft, sondern wir erinnern mit dem Blick nach vorn, mit dem klaren und lauten Ruf: Nie wieder ein solcher Krieg! Ich weiß, dass ich diesen Ruf mit vielen, vielen Menschen in Polen und den baltischen Staaten, in der Ukraine, in Belarus und in Russland teile, in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. An Sie, an die Bürgerinnen und Bürger all der Länder, die unter dem deutschen Vernichtungskrieg gelitten haben, richte ich heute mein Wort:
Lassen Sie und lassen wir nicht zu, dass wir einander von neuem als Feinde begegnen; dass wir den Menschen im Anderen nicht mehr erkennen. Lassen wir nicht zu, dass die das letzte Wort haben, die der nationalen Überheblichkeit, der Verachtung, der Feindschaft, der Entfremdung das Wort reden. Die Erinnerung soll uns einander näherbringen. Sie darf uns nicht von Neuem entzweien.
(…)
Bei allen politischen Differenzen, bei allem notwendigen Streit über Freiheit und Demokratie und Sicherheit muss Platz sein für Erinnerung. (…)
Erinnerung an Vergangenes heilt nicht die Wunden, die in der Gegenwart geschlagen werden – aber die Gegenwart tilgt auch niemals die Vergangenheit. So oder so lebt Vergangenes in uns fort: entweder als verdrängte Geschichte, oder als eine Geschichte, die wir annehmen. Zu lange haben wir Deutsche das mit Blick auf die Verbrechen im Osten unseres Kontinents nicht getan. Es ist an der Zeit, das nachzuholen.
(…) Wir sind hier, um an 27 Millionen Tote zu erinnern – an 14 Millionen zivile Opfer.
Wir sind hier, um an den ungeheuren Beitrag der Frauen und Männer zu erinnern, die in den Reihen der Roten Armee gegen Nazideutschland gekämpft haben.
Wir blicken auf ihren Mut und ihre Entschlossenheit; auf die Millionen, die gemeinsam mit den amerikanischen, britischen und französischen Alliierten und vielen anderen ihr Leben eingesetzt und viele von ihnen verloren haben, für die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Ich bezeuge meinen tiefen Respekt für ihren Kampf gegen – wie Yehuda Bauer schreibt –„das schlimmste Regime, das diesen Planeten je geschändet hat“.
Ich verneige mich in Trauer vor den ukrainischen, belarusischen und russischen Opfern – vor allen Opfern der ehemaligen Sowjetunion.
Arbeiten wir für eine andere, für eine bessere Zukunft. Es liegt in unser aller Hände.