Der gleiche alte Mist – Teil 1

18. Januar 2021

Eckart Conze über die Schatten des Kaiserreichs

Von Sebastian Schröder (Dipl.-Soz.)

Beängstigend muss es gewesen sein, als am 23. Mai 1925 zahlreiche Schulklassen unter Führung ihrer Lehrer mit Fahnen und Gesang zum Stadtwald am Freudenberg in Elberfeld marschierten (heute Wuppertal).

Anlass war die Enthüllung eines Gedenksteins zu den überall stattfindenden Feiern, die die „tausendjährige Zugehörigkeit des Rheinlandes zu Deutschland“ erklärten. Worte und Lieder des Hasses forderten die Kinder und Jugendlichen zur Fortführung der Feindschaft mit Frankreich auf, diese Worte und Lieder bestätigten den radikalen Nationalismus, der in den Ersten Weltkrieg geführt hatte und in den Zweiten Weltkrieg führen wird.

Gespenstisch war es, als im Wald am Freudenberg das Blechbläserquartett der Universität Wuppertal das Lied „Ach du wunderschöner deutscher Rhein“ anstimmte. Am 23. Mai 2016 – genau 91 Jahre später – wurde dieses sorgsam restaurierte Denkmal feierlich wieder eingeweiht. Die Inschrift des Gedenksteins hat sich nicht geändert.

Unerträglich ist es, dass dieser Ort der nationalistischen Feindseligkeit seit 2015 auf der Denkmalliste der Stadt Wuppertal steht (Nr. 4239).

Was immer möglich gewesen sein mag, es ist nicht geschehen.“

Eckard Conze zu Kaiserreich und Demokratie

Der 18. Januar 1871, Tag der Gründung des deutschen Nationalstaates im Spiegelsaal von Versailles, jährt sich zum einhundertundfünzigsten Mal. Einflussreiche Kräfte von rechts deuten die Geschichte des autoritären Kaiserreiches positiv, um ihrer heutigen und zukünftigen deutschnationalen Politik eine Legitimation zu verschaffen.

Gegen den verharmlosenden Erinnerungskult an das Kaiserreich und seine nationalistischen Traditionen setzt der Historiker Eckhard Conze sein neues Buch Schatten des Kaiserreiches – Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe.

Er fragt „Begann 1871, was zwischen 1933 und 1945 so katastrophal endete? War im Kaiserreich das „Dritte Reich“ bereits angelegt?“ und kann zeigen, dass sowohl die Entstehung des Nationalstaates, seine Konstruktion und die vor allem die reaktionären gesellschaftlichen Strukturen in den Ersten Weltkrieg geführt, die Weimarer Republik zerstört und den deutschen Faschismus ermöglicht haben.

Im ersten Teil des Buches beschreibt Conze den Weg zum Nationalstaat. Die Befreiung von der französischen Besatzung 1813 gehört zur Vorgeschichte der „Reichsgründung“ ebenso wie der Zollverein und die „Rheinliedbewegung“ 1840. Die bürgerliche Revolution 1848 beurteilt er folgendermaßen: „Aber 1848 blieb der deutsche Nationalismus noch partizipativ, er blieb eine progressive, tendenziell „linke“ Bewegung.“

Seit der Niederlage der 48er Revolution bestimmt Bismarck die Entstehung des Nationalstaates unter der Vorherrschaft von Preußen. Die Errichtung des Deutschen Reiches im und durch die Kriege Preußens gegen Dänemark, Österreich und Frankreich, jene „Kriegsgeburt“ enthält schon einige der reaktionären Bausteine, die sich unter Wilhelm II immer weiter radikalisieren: den Krieg und den Sieg als nationalistischen Kitt (Conze: Einheit durch Feindschaft), den Hass gegen alles Französische, die Demütigung des Gegners durch die Besetzung Elsass-Lothringens, Reparationsforderungen, die Staatsgründung im Spiegelsaal von Versailles. Es ist eine der nachdrücklichsten Feststellungen Conzes, dass Bismarck erst mit der Unterstützung der Liberalen seine Revolution von oben und seine Kriege durchsetzen konnte. „Im Kriegssommer 1870 enthielt die Idee der Nation kein Demokratieversprechen.“

Jetzt folgt der entscheidende 2. Teil des Buches, denn Conze benennt offen vieles, was den neu gegründeten „autoritären Nationalstaat“ strukturell kennzeichnet.

Dieses Kaiserreich war keine Demokratie, denn das Wahlrecht (nur für Männer) war in Preußen, das hieß für 60 Prozent der Wähler, eingeschränkt. Das vom Einkommen abhängige Dreiklassenwahlrecht beschreibt Conze: „1908 gehörten [in Preußen] 82 Prozent der Wahlberechtigten der ritten Wählerklasse an und verfügten damit über das gleiche Stimmgewicht wie die vier Prozent der Wahlberechtigten, die aufgrund ihres Steueraufkommens der ersten Wählerklasse zugeordnet waren.“ Es gab auch keine festgeschriebenen Grundrechte wie in der Verfassung von 1848. Noch wichtiger war, dass das Parlament keine Regierung bilden konnte und auch den Reichskanzler nicht abwählen konnte. Die Stellung von Kaiser und Reichskanzler war institutionell unangreifbar, die Macht der Fürsten groß und von Preußen dominiert.

Zu diesen Grenzen der Demokratisierung kommt der ausschließende Nationalismus: „Den äußeren Feinden der Nation, allem voran dem „Erbfeind“ Frankreich, entsprachen als „Reichsfeinde“ im Innern alle Kräfte, die sich im autoritären, kleindeutsch-preußischen und protestantischen Nationalstaat nicht wiederfanden, die ihn ablehnten, weil er im Gegensatz zu ihren politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen stand. Das galt für Katholiken, es galt für die Arbeiterbewegung und für nationale Minderheiten wie Polen, Dänen oder frankophone Elsässer, für die Anhänger der Welfen (…) und sehr bald auch schon für die deutschen Juden. Sie alle verband die Stigmatisierung als Reichsfeinde, als „undeutsch“, der Vorwurf, durch nationale Unzuverlässigkeit die Einheit der Nation zu unterminieren und sie dadurch zu schwächen.“

Die Bedeutung des Antisemitismus in Gesellschaft und Politik hebt Conze hervor. Er macht deutlich, dass der „Antisemitismus (.) auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft“ war. Über Marr, Treitschke, Stoecker, De Lagarde und Böckel bilden sich antisemitische Ideologien und auch Vereine, die sogar Abgeordnete in den Reichstag schicken. „Aber der aggressive Antisemitismus dieser Splitterparteien allein reichte nicht aus, um den Judenhass in der deutschen Gesellschaft zu verankern und ihm eine Massenbasis zu geben. (…) Viel wichtiger für die Verbreitung und die Massenwirkung des Antisemitismus ist die Tatsache, dass er seit den 1890er Jahren Eingang in die Programme und das Selbstverständnis der Deutschkonservativen Partei und der entstehenden nationalistischen Massenorganisationen fand. Dort verband er sich noch enger mit einem sich immer weiter radikalisierenden Nationalismus völkisch-rassistischer Prägung. Der moderne, rassische Antisemitismus war geradezu ein wesentliches, wenn nicht das entscheidende Merkmal jener radikalnationalistischen Rechten, deren Aufstieg in den 1890er Jahren begann.“

Er weist uns auf die immer weiter wachsende, entscheidende Rolle der Verbände im Kaiserreich hin. Sie haben den politischen Diskurs nachhaltig nach rechts gedrückt, und auch die Lebenswelt von Millionen Deutschen über mehrere Jahrzehnte bestimmt. Der Alldeutsche Verband organisiert seit 1891 die Multiplikatoren und wird selbst von der herrschenden Klasse gelenkt. Von hier werden die Kriegervereine, der Flottenverein, die Kolonialvereine usw. mit Ideologie, Schulung und Personal versorgt. „Ohne Unterbrechung jagten die Alldeutschen die Berliner Politik und ihre führenden Repräsentanten, ihr nationalistischer Druck ließ zu keinem Moment nach.“

Autoritarismus und Nationalismus gehen einher mit Imperialismus. Die deutsche Außenpolitik gegenüber den anderen imperialistischen Staaten ist gekennzeichnet durch Machtpolitik ohne den Willen zur Verständigung, durch Hinterzimmer- und Geheimpolitik (Conze: Nicht-Krieg als Frieden).

Schon Mitte der 1880er Jahre annektiert das Kaiserreich den Großteil seiner Kolonien. Der Kolonialismus ist Teil der „Weltpolitik“, des imperialistischen Kampfes um Einflusssphären. Das Kaiserreich unterwirft die besetzten Gebiete einer dreißig Jahre andauernden Ausbeutung und Unterdrückung bis hin zum Völkermord. Diese postkoloniale Geschichte Deutschlands betont Conze, und er verweist auf die daraus resultierende Verantwortung von Staat und Gesellschaft heute: „Deutschland teilt mit seinen ehemaligen Kolonien eine gemeinsame koloniale und postkoloniale Geschichte. (…) Nach einer Phase kolonialer Amnesie wird Deutschland von seiner kolonialen Vergangenheit eingeholt.“ Endlich werden die die jahrzehntealten Rückgabeforderungen des Raubgutes – das sich etwa im Humboldt Forum befindet – gehört.

Die massive Aufrüstung und immer aggressivere Provokationen führen schließlich zur vom Kaiser und den Militärs gewünschten Eskalation. Am Ende steht der Erste Weltkrieg, der in Deutschland direkt aus dem überall präsenten Bellizismus resultiert. „Der erwartete Sieg (…) würde nicht nur Deutschlands Macht vergrößern und das Kaiserreich endgültig zur Weltmacht machen, sondern er würde auch den Ansturm der Demokratie aufhalten und den autoritären Nationalstaat stabilisieren: „Nach jedem Krieg wird es besser.““

Ein vergangenes Reich? – so lautet der 3. Teil der Schatten des Kaiserreichs. Conze beginnt mit der Historikerdebatte in der BRD und im angelsächsischen Raum zwischen den konservativen Alten und der kritischen Generation, in der, inspiriert von der „Fischer-Kontroverse“, die dominierende deutschnationale und interessengeleitete Sichtweise verdrängt werden konnte. Schließlich setzt sich die Sonderwegsthese in den Auseinandersetzungen zwischen rechts und liberal durch, die „Bielefelder Schule“ steht seit Anfang der 70er Jahre für diese Herangehensweise. Dabei beruft sich die Sonderwegsthese, wenn auch in aufklärerischer Absicht, auf die deutschnationale Erzählung des Gegensatzes zwischen Deutschland und dem Westen (der “Geist von 1914“ gegen die „Ideen von 1789“). Eine tiefergehende Analyse des Kaiserreiches muss deshalb, und wegen der innewohnenden Idealisierung westlicher Gesellschaften, über diesen Ansatz hinausgehen. „Aber als Narrativ zunächst von Abweichung und Devianz, dann, nach 1945, als Erzählung der Rückkehr zum Westen und damit letztlich doch als Fortschrittsgeschichte, konnte sie sich wissenschaftlich am Ende nicht behaupten.“ Die sich ändernde Bewertung der Rolle Bismarcks im Diskurs der BRD ist ein Indiz für das politische Klima, ein „Gradmesser für die Liberalität in Politik und Gesellschaft“.

Anschließend zeigt Conze, wie Christopher Clarks Bestseller „Die Schlafwandler“ (2014) die deutsche Debatte um „100 Jahre Erster Weltkrieg“ dominiert. Clarks Thesen relativieren die Schuld des kaiserlichen Deutschland am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, natürlich im Sinne der neurechten Historiker*innen. In der rechten Argumentation ist die Abwehr der Kriegsschuld der notwendige erste Schritt. Der dann nicht mehr gerechtfertigte Versailler Vertrag habe schließlich zum deutschen Faschismus geführt (1919 bringt 1939). Die Zuweisung der Schuld am Ersten und damit auch am Zweiten Weltkrieg durch die Siegerländer verhindert heute über den „Schuldkult“ eine selbstbewusste und unabhängige Außenpolitik, ein „normales“ Deutschland. Conze zeigt die Mechanismen dieser Selbstentlastungsdiskurse auf.

Die Entschädigungsforderungen der Hohenzollern, der preußischen Königs- und Kaiserdynastie, gegen die BRD, vorgetragen seit 1991, haben 2019 zu einer scharfen Debatte geführt, in deren Zentrum die Mitschuld der Kaiserfamilie an der Stärkung, Durchsetzung und Stabilisierung des deutschen Faschismus steht. Entschädigung ist laut Gesetz nur zulässig, wenn dem Nazisystem kein `erheblicher Vorschub` geleistet wurde. Conze: „Schon 1926 empfing [Kronprinz Wilhelm (1882-1951)] den gerade aus der Landsberger Haft entlassenen Hitler im Schloss Cecilienhof. Sechs Jahre später, im Vorfeld der Reichspräsidentenwahl von 1932, sondierte der Kronprinz im Gespräch mit Hitler die Möglichkeit, sich zum Reichspräsidenten wählen zu lassen und Hitler dann zum Reichskanzler zu ernennen. Als das nicht funktionierte, unterstützte er Hitler als Kandidat bei der Präsidentenwahl (…) und brüstete sich dann damit, Hitler enorme Stimmengewinne verschafft zu haben. Fast gleichzeitig setzte er sich für eine Aufhebung des in Preußen verhängten Verbots von SA und SS ein. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme trugen der Kronprinz und andere Angehörige der Familie durch ihre Anwesenheit beim „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 dazu bei, den Schulterschluss zwischen Konservativen und Nationalsozialisten öffentlich zu inszenieren. Für die Zustimmung von Adeligen, Konservativen und Monarchisten zum Nationalsozialismus war gerade dieser Auftritt in der Garnisonskirche – an den Särgen der Preußenkönige und vor dem leeren Thron des Kaisers – von kaum zu unterschätzender Bedeutung.“

Er nennt einige der wissenschaftlichen Akteur*innen des aktuellen rechten Diskurses um Hohenzollernentschädigung und Kaiserreich; in diesem Umfeld werden auch zwei Gutachten positiv besprochen, die die Verstrickungen der Hohenzollern bagatellisieren: Cora Stephan, Jörg Friedrich, Hedwig Richter, Andreas Wirsching, Sönke Neitzel, Dominik Geppert, Michael Wolffsohn, Benjamin Hasselhorn und auch Herfried Münkler.

Eckart Conze hat das wichtigste Buch zum 18. Januar 1871 vorgelegt, seine „geschichtspolitische Intervention“ zielt auf die Gegenwart, und er warnt für die Zukunft vor den neuen Deutschnationalen: „Nation ist in dieser Sichtweise kein demokratisches und kein freiheitliches Konzept individueller Zugehörigkeit und Teilhabe, sondern beruht auf der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gemeinschaftsfremden.“ Er macht deutlich: Wer das Kaiserreich idealisiert, wendet sich gegen die Fundamente der Republik.

„Allein die Weimarer Republik kann einen Platz im Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik beanspruchen.“ Eckart Conze

Ja, vielleicht – aber was ist mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit?

Stark gekürzt erschienen als „Verklärung birgt Gefahren“ in: antifa – Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur, Januar/Februar 2021, Seite 28