Pfadabhängigkeiten

11. März 2023

Von Sebastian Schröder

Über den Paradigmenwechsel in der deutschen Rüstungsindustrie

Olivier Kempf analysiert in der aktuellen Le Monde Diplomatique den Krieg in der Ukraine als Kampf gleichwertig ausgerüsteter Gegner in einem »symetrischen Krieg«, geführt auch mit den Waffen des 21. Jahrhunderts. Der Einsatz von Drohnen und Satelliten zu elektronischer Kampfführung führt zum Stellungskrieg und zur Materialschlacht, zum Kräftegleichgewicht ohne überlegene Seite. Die Handlungen des Gegners sind durch die intensive Aufklärung bekannt, im Krieg in der Ukraine gibt es keine militärischen Überraschungen.

Auf eine qualitativ neue Stufe möchten die -NATO und die EU ihre Armeen seit 2012 heben: Sie streben eine massive Überlegenheit durch die komplette digitale Vernetzung zusammen mit modernster Waffentechnik an. Die angestrebte Überlegenheit würde in letzter Konsequenz Unbesiegbarkeit bedeuten, da die digitalisierten NATO-Armeen dem Gegner immer mehrere Schritte voraus wären.

Den Weg dieser Aufrüstung in Deutschland, der EU und der NATO beschreibt Jürgen Wagner in seinem Buch »Im Rüstungswahn – Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung«. Der Historiker und Politologe ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung Tübingen und klärt sachkundig über den Verlauf der Aufrüstung, die Akteure und ihr Zusammenspiel, aber auch über Konflikte bis zur »Zeitenwende« auf und beschreibt dann die Rüstungsexplosion in Deutschland durch das Sondervermögen vom Februar 2022.Der Autor verfolgt die Entwicklung der Bundeswehr, die ab 1992 ihren Schwerpunkt auf Auslandseinsätze legt und deshalb mit mobilen und leichten Formationen im wesentlichen Techniken und Mittel der sogenannten Aufstandsbekämpfung anwendet. Seit 2014 wird die Aufrüstung der NATO-Länder als politisches Projekt, gerichtet gegen Russland, offen vertreten. Das hat auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Vorfeld der Münchner »Sicherheitskonferenz« jüngst erklärt.

Wagner zeigt auf, wie der im »Münchner Konsens« endgültig formulierte deutsche Aufrüstungsplan entstanden ist. Ab dem Jahr 2011 formierten sich die Kräfte, die der deutschen Armee endlich wieder die Fähigkeiten für den großen kontinentalen Krieg zurückgeben sollten. Als Reaktion auf Außenminister Guido Westerwelles unmissverständlich vertretene militärische Zurückhaltung Deutschlands im Bombenkrieg gegen Libyen wurden die Weichen für beharrliches und systematisches Rüsten gestellt. »Damit war der Paradigmenwechsel eigentlich vollzogen, es brauchte nun aber noch jemanden, der ihn der Öffentlichkeit verkaufen konnte. Diese Person war mit dem ohnehin extrem militäraffinen damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auch schnell gefunden.«

Seit über einem Jahrzehnt folgt die Militärplanung von NATO, EU und Bundeswehr dem Ziel des »Aufbaus digitalisierter Großverbände«. Dabei steht für Deutschland die europäische Zusammenarbeit mit Frankreich zur Vernetzung und Vergrößerung der nationalen Rüstungsindustrien im Mittelpunkt, um über große Produktionsserien von Waffen und Waffensystemen zugleich Output und Profitabilität zu erhöhen. Mit der Aufrüstung geht also die Erhöhung der Rüstungsexporte einher.

»Vor allem drei deutsch-französische Großprojekte sollen sich als europaweite Standardprojekte durchsetzen und von dort aus die globalen Rüstungsmärkte erobern: die bewaffnungsfähige Eurodrohne (MALE RPAS), das Luftkampfsystem der Zukunft (FCAS) sowie das Kampfpanzersystem der Zukunft (MGCS).« Allerdings ist unklar, ob diese Waffensysteme überhaupt fertiggestellt werden können. 2021 war sogar ungewiss, ob die Projekte weiter verfolgt werden können. »Die Umsetzung der mit dem Münchner Konsens artikulierten Weltmachtansprüche drohte zu scheitern oder zumindest auf halbem Wege stecken zu bleiben – bis der russische Angriffskrieg die Zeitenwende einläutete.«

Mit der Sondervermögen genannten Rüstungsfinanzierung werden Pfadabhängigkeiten geschaffen, die über 2026 hinaus wirken werden. Das Sondervermögen läuft 2026 aus, und dann kommen die großen Verteilungskonflikte auf die Gesellschaft zu: »Die Entscheidungen, ob es zu einer Verstetigung der Zeitenwende kommen wird, dürften spätestens 2026 getroffen werden. Dann ist das Sondervermögen aufgebraucht und die Frage einer dauerhaften Erhöhung der deutschen Militärausgaben um 25 bis 30 Mrd. Euro wird im Raum stehen.«

Aber nicht nur um »Butter oder Kanonen« geht es, auch um »olivgrün oder feldgrau«.

Was passiert, wenn die Einführung komplexer multinationaler Waffensysteme an nationaler Konkurrenz, politischem Kalkül, Technik oder Finanzierung scheitert? Wird in Deutschland die westliche »olivgrüne« Militärtradition bleiben – oder wird die mächtige Tradition des preußisch-kaiserlichen Militarismus wiederkehren? Dass »feldgrau« noch lebt, wissen wir!

Jürgen Wagner hat ein unverzichtbares Handbuch geschrieben, in dem das ganze Panorama der Aufrüstung sichtbar wird – unbedingt lesen!