Albert Norden: „Olympischer Friede“ vor und hinter der Theaterkulisse
8. Januar 2021
6. August 1936
Es erweist sich in diesen Wochen wieder die Geschicklichkeit des deutschen Faschismus, im jeweiligen Augenblick alle Kräfte auf einen Punkt zu konzentrieren. Seit Ende Juli erhält der Durchschnittsdeutsche keine andere geistige Nahrung als die Berichte über die Olympiade. Die Presse läßt alle politischen Ereignisse vor der Olympiade zurücktreten. Das ganze Radioprogramm dreht sich nur um die Olympiade. Es soll Berlin, es soll ganz Deutschland sich ausschließlich um die Frage kümmern, wieviel goldene Medaillen die deutschen Mannschaften erringen, ob die Vertreter dieser Nation die Sportler der anderen Nationen besiegen werden. Eine atemlose Spannung wird rund um den Ausgang der olympischen Kämpfe ständig zu erzeugen versucht, als ob es keine anderen Probleme gäbe. Es soll eben keine anderen, vor allem keine sozialen Probleme geben. Aus dem homo sapiens möchte die Hitlerregierung den homo olympicus machen.
Mit einem unerhörten Aufgebot ist sie am Werke, um die großen Scharen der ausländischen Gäste vom wirklichen Leben und Denken des Volkes auszusperren. Tausende dressierte Fremdenführer und noch viel mehr Geheimpolizisten errichten die unsichtbare Mauer und sorgen für die vom Regime gewollten Auskünfte, damit morgen diese Fremden als unbezahlte Agitatoren für die Größe Adolf Hitlers und die Ordnung im „Dritten Reich“ ein Zeugnis ablegen, das man im Ausland wie auch zur Bestätigung gegenüber dem eigenen Volke gebrauchen kann. Das deutsche Volk ist in seinem Kern so wenig chauvinistisch, daß es gar nicht erst gegenüber den ausländischen Gästen zur Freundlichkeit aufgefordert werden brauchte, die freilich bei einen kriegsstiftenden Herren immer den Charakter des Gezwungenen hat.
Gegen die Entrüstung der Welt über die Greuel des deutschen Faschismus wird der olympische Riesenrummel gesetzt. Wo sind diejenigen, die seit Hitlers Machtantritt zu insgesamt 600 000 Jahren Kerker verurteilt wurden? Wo sind die 40 000 ohne Urteil in den Konzentrationslagern Festgehaltenen? Kein Olympiagast bekommt sie zu sehen! Die politischen Häftlinge dürfen nicht in Sichtweite der ausländischen Automobilisten arbeiten. Für die sind die prächtig aufgeputzten Unter den Linden, die schönen und großen Anlagen des Olympischen Dorfes, diese angebliche Friedensstätte, in der ab Ende August die faschistischen Generale Scharfschießübungen kommandieren werden. Führt man die Ausländer an die Gräber unserer hingerichteten Genossen, der Zehntausende ermordeter Antifaschisten? Leitet man die Fremden an die Mauer der Lichterfelder Kaserne, die vor zwei Jahren mit dem Blut und Gehirn der zu Hunderten erschossenen SA-Funktionäre bespritzt wurde? Bringt man sie vor die Todeszellen der Neuköllner Arbeiter, an das Leidenslager Ossietzkys, in die Kerkergrüfte der Hunderte Sportler, die man gefangenhält, weil sie wirklich für einen friedlichen, völkerverbrüdernden Sport kämpften?
Nein, man führt sie in die Vergnügungslokale, die Zirkusse, die Kabaretts, die Theater. Plötzlich keine chauvinistischen Vorträge, Lieder und Märsche im Rundfunk mehr! Plötzlich Einschränkung der antisemitischen Propaganda, so daß der „Stürmer“, dieses von Hitler bevorzugte abscheuliche Gossenblatt aus den Schaukästen und fast allen Kiosken verschwunden ist! Plötzlich wird den verachtetsten Exoten das liebenswürdigste Gesicht gezeigt. Dem Berlin der olympischen Wochen ist freilich der Lebensmittelmangel nicht anzusehen, der ein Bestandteil des Hitlerfaschismus ist.
Wen die olympische Fackel blendet, der wird die glühenden Eisen nicht sehen, mit denen die gefangenen Gegner Hitlers gefoltert werden.
Von einem dieser Geheimnisse, das keine Nazizeitung berichtet und kein Fremdenführer erzählt, sei hier gesprochen. Was sich am Vorabend der Olympiade in den Opelwerken bei Mainz ereignete, das zeigt die wirkliche Situation der schaffenden deutschen Menschen. Es kam dort zu einem Kampf, von dem die ganze Weltpresse, allerdings nur summarisch, berichtete. Aber es ist wichtig, die Einzelheiten kennenzulernen, um ein Bild von der furchtbaren Fesselung des werktätigen Volkes im Reiche Hitlers zu gewinnen.
Die qualifizierten Arbeiter einer Schicht der Polsterabteilung, etwa 250 Mann, die bei schärfster Akkordarbeit nur einen Stundenlohn von 60 bis 65 Pfennigen erreichten, forderten vom Vertrauensrat die Aufnahme von Verhandlungen mit der Direktion, um eine Verbesserung ihrer Löhne zu erlangen. Brüsk lehnte die Betriebsleitung jedes Zugeständnis ab. Als dies bekannt wurde, legte die Abteilung ihre Arbeit nieder, stellte das Fließband ab und begab sich auf den Hof. Von der Direktion gerufen, brachen nun starke Polizei-, SS- und SA-Kräfte in den Betrieb ein, umzingelten die 250 Mann und verhafteten an Ort und Stelle die mutmaßlichen „Rädelsführer“, 37 Arbeiter, darunter 15 SA- und 6 SS-Leute. Alle übrigen wurden entlassen. Die Festgenommenen sind inzwischen teilweise den schwersten Folterungen seitens der Geheimen Staatspolizei unterworfen worden. Aber die Nachricht von dieser Bewegung hat schnell die Runde gemacht und dazu beigetragen, daß auch in den übrigen Betriebsabteilungen von Opel sich ein regelrechter Widerstand entwickelt.
Dieser Fall ist symptomatisch für den Terror, der auf jede Lohnbewegung, auf jede selbstständige Regung der Arbeiterschaft antwortet. Die Hitlerregierung verkündet das Prinzip der Stabilität der Löhne. Sie tat es in den ersten Jahren mit der Begründung, daß erst einmal die Wirtschaft wieder gesunden müsse. Nun, die deutsche Schwerindustrie hat infolge der ungeheuren Rüstungsaufträge längst den Konjunkturstand von 1928 erreicht, aber die Löhne verharren nach wie vor auf dem tiefsten Krisenstand von 1932. Darüber wird unter den Belegschaften eine sehr lebhafte Erörterung geführt, die durch die Ereignisse in Westeuropa nur neue Nahrung erhält. Nachdem der Aufschwung der Rüstungsindustrie es unmöglich gemacht hat, das Argument vom Abwarten der „besseren Zeiten“ weiter ins Feld zu führen, wird ganz offen erklärt (siehe die vierte Aprilnummer der „Arbeitspolitik“, Organ des Propagandaamts der Deutschen Arbeitsfront), daß die Erhöhung der Löhne zu einer Steigerung der Kosten des Wehrprogramms führen müsse. Darum sei auch weiterhin das bisherige niedrige Lohnniveau nötig. Die ersten Opfer der Kriegspolitik Hitlers sind also die deutschen Arbeiter selbst.
Nun ist Opel heute das größte Autowerk des Kontinents, es steht an achter Stelle in der Weltautoproduktion. 350 Wagen verließen täglich im letzten Jahr den Betrieb. Hitlers Kriegspolitik wie auch seine Judenvertreibung füllen die Taschen der Herren von Opel. Ihre Aufträge für die deutsche Armee gehen ins Ungemessene. Sie konnten in Brandenburg bei Berlin vor kurzem ein neues Werk errichten, in dessen höchstmodernen Anlagen zwei Typen von „Opel-Blitz“-Lastwagen ausschließlich für die Bedürfnisse der Generalität erzeugt werden. Sie erweitern augenblicklich ihr Hauptwerk in Rüsselsheim bei Mainz durch den Bau neuer Fabrikationsstätten. Sie verhandeln in Jugoslawien über die Errichtung einer großen Automobilfabrik. Sie kauften vor einem halben Jahr die Bayrischen Spiegelglasfabriken in Fürth aus „nichtarischem“ Besitz für ein Spottgeld auf.
Die Herren Unternehmer von Opel durften im vergangenen Jahr einen Überschuß von 113 Millionen Mark aus den Arbeitern herauspressen.
Aber die Arbeiter dürfen nicht einmal die bescheidenste Lohnforderung anmelden.
Die Herren von Opel dürfen ihren zugegebenen Reingewinn gegenüber 1933 auf 20 Millionen vervierfachen, ungerechnet die 24 Millionen, die in den Rubriken „Sonstige Aufwendungen“ und „Reserven“ versteckt sind.
Aber gleichzeitig muß die verdreifachte Arbeiterzahl mit einer insgesamt knapp anderthalbfachen Lohnsumme auskommen.
Es dürfen die Herren von Opel – ja, wer sind denn diese Herren? Das sind John Piermont Morgan, Owen D. Young und die ebenso berüchtigt skrupellosen amerikanischen Pulverkönige Gebrüder DuPont de Nemours! Denn Opel gehört zum Besitz des Welttrusts General Motors, in dessen Aufsichtsrat die eben Genannten den Ton angeben. Man mag welche Hakenkreuzzeitung immer aufschlagen, vor dem Machtantritt Hitlers und zuweilen auch heute noch findet man erbitterte Angriffe gegen die „internationale Hochfinanz“, als deren Inkarnation gerade die Morgan und Young, der Vater des gleichnamigen Tributplanes gegen Deutschland, unablässig genannt wurden. Der Vorstand des Aufsichtsrates von Opel ist zusammengesetzt aus amerikanischen und deutschen Bankiers, Direktoren und Generaldirektoren der General Motors, eben der Delegierten der Morgan und Young. Aus den Tanks- und Panzerwagenbestellungen der Hitlerregierung strömen ihnen die Millionen zu. Ja, die Gewinnler der faschistischen Aufrüstung sitzen auch in der Fifth Avenue.
Vor den Geldschränken dieser Geldfürsten der Welt stehen die Faschistenführer Posten. Wehe den Arbeitern, die ihr gutes Recht vertreten! Wehe ihnen, wenn sie einen ihrer Leistung entsprechenden Lohn verlangen! Man hetzt ihnen die Polizei auf den Hals, Kader der SS und SA werden eingesetzt, um ihre eigenen Kameraden gefesselt abzuführen. Der Profit der internationalen Finanzkapitalisten ist den Hitler und Göring tausendmal wichtiger als das Wohl deutscher Arbeiter, die für die Morgan und Young ihre Haut auf den Arbeitsmarkt tragen. Die Gestapo, die ganze faschistische Bürokratie ist hier das unmittelbare Werkzeug der amerikanischen Milliardäre gegen die eigenen deutschen Landsleute. Denn die faschistischen Nationalisten sind überall die Feinde der wahren Patrioten.
Hitler gerät außer sich, wenn von internationaler Solidarität gesprochen wird, und über diesen Begriff gießt die Nazipropaganda die übervolle Schale ihres giftigen Hasses aus. Aber die faschistische Diktatur kennt und übt die internationale Solidarität, freilich nur mit den Reichen, mögen es die Amerikaner Morgan und Young oder der spanische konterrevolutionäre Riesenschieber March sein.
Die Ley und Konsorten haben erklärt, daß die Arbeiter und Fabrikanten sich untereinander verständigen sollen. Scheitert aber die Verständigung, wollen die Arbeiter den schon zur Gewohnheit werdenden Abbau der übertariflichen und auch tariflichen Akkordzuschläge, die grenzenlose Verlängerung der Arbeitszeit nicht mehr ertragen, dann greift der faschistische Staat für die im Reichtum schwimmenden Fabrikanten ein. Es gäbe keinen Klassenkampf mehr im „Dritten Reich“, verkünden die Hakenkreuzbonzen. Sie schaffen den Klassenkampf auf ihre Weise ab, indem sie die Arbeiter zwingen wollen, sich widerstandslos dem Klassendiktat der Millionäre zu beugen. Dieser Tage machte sich das Organ der Deutschen Arbeitsfront in seiner August-Nummer über die „westliche Toleranz“ lustig, die es nicht wage, „scharfe Salven in die Reihen der streikenden französischen Bergarbeiter“ abzugeben. Scharfe Salven – das ist die faschistische Devise gegen die Arbeiter, die sich nicht für die Dividende des internationalen Kapitals aushungern lassen wollen.
Nicht der olympische Lärm, sondern der Vorfall von Opel zeigt das wirkliche Gesicht des heutigen Deutschlands. In den Tiefen seines Volkes lebt der heiße Friedenswille, den seine Herrn in den olympischen Reden nur vortäuschen und den sie selbst täglich durch ihre Handlungen desavouieren. Wenn der Kampf der deutschen Arbeiter um höhere Löhne das Hitlersche Kriegsprogramm durchkreuzt, wie es die faschistische Presse gesteht, dann müssen alle Kräfte in der Welt, die sich dem Kampf gegen den Krieg widmen, energisch eingreifen, um die Befreiung der Verhafteten von Opel zu erreichen. Hier erwächst den Friedensfreunden, allen voran den gewerkschaftlich Organisierten, eine wichtige Aufgabe, von deren Bewältigung auch das Schicksal kommender Arbeiterkämpfe im „Dritten Reich“ mit abhängt.
Erschienen unter: Hans Behrend.
Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung (Basel), 1936, Nr. 35, S. 1419-1421.
Albert Norden: Die Nation und wir – Ausgewählte Aufsätze und Reden 1933-1964, Band 1, Berlin 1965, S. 135-141