Albert Norden: Wuppertal – 23. Januar 1936

4. Januar 2021

„Der Wuppertaler Kommunismus ist une vérité (eine Wirklichkeit), ja beinahe schon eine Macht“, schrieb Friedrich Engels im Februar 1845 aus Barmen an Karl Marx. Das war im Vormärz, als die junge fortschrittliche Bourgeoisie des Rheinlandes mit dem Radikalismus kokettierte und das Proletariat erst zu erwachen begann. Vier Jahre später steht derselbe Friedrich Engels an der Spitze von Arbeiterbataillonen vor dem Elberfelder Rathaus. In diesen vier Jahren ist Gewaltiges geschehen. Das Proletariat betritt 1848 als selbständige Kraft die Bühne der europäischen Geschichte, und sein Erscheinen auf der politischen Arena genügt, um die deutsche Bourgeoisie unverzüglich ihr Kompromiß mit dem Feudalismus schließen zu lassen.

Noch einmal treten im Mai 1849 die Arbeiter des Rheinlandes und Badens auf den Plan zum Sturz des volksverräterischen Ministeriums Brandenburg-Manteuffel, das alle Versprechungen, die im März 1848 gegeben wurden, längst vergessen und begraben hat. Die ersten Barrikaden entstehen in Elberfeld, Gefängnisse werden gestürmt, und die letzten Zeugen der damaligen Kämpfe, mehrpfündige Kugeln, sieht man heute noch in den Häusermauern des Stadtzentrums von Elberfeld. Aber die scheinbar so fortschrittliche industrielle Bourgeoisie schlägt sich jetzt, wo ein Zipfel der Macht in ihren Händen ist, auf die Seite des Feudalismus. Ihre Bürgerwehr wird mit Hilfe des Militärs Herr der Stadt, aus der Engels ausgewiesen wird.

Als Ferdinand Lassalle seine Agitation für die Arbeitervereine aufnimmt, wendet er sich zuerst in diese Gegend. Hier, bei den Färbern und Bleichern, den Textilern und den Arbeitern der Stahlwaren-Industrie entstehen die ersten sozialdemokratischen Arbeitervereine Norddeutschlands. Diese Hochburg der alten Sozialdemokratie konnten auch Bismarcks Kanonen des Sozialistengesetzes nicht zerschießen.

Nach dem Weltkrieg flammten im Wuppertal wie in allen Industriezentren des Reiches revolutionäre Kämpfe auf, um Deutschland zu einer wirklichen Republik der Werktätigen zu machen. Und mit welch grenzenloser Opferbereitschaft die Arbeiter kämpften, bezeugen viele Kampfszenen wie die auf der Elberfelder Bahnhofsbrücke, wo trotz Verbots der revolutionären Leitung zwei junge Männer allein den anrückenden Truppen entgegentraten und deren Vormarsch stundenlang durch Maschinengewehrfeuer aufhielten. Drei Tage lang mußten die Leichen der beiden Jungarbeiter zur Abschreckung liegen bleiben.

Ein Jahr später ernteten Ebert-Scheidemann-Noske, was sie mit der Niederschlagung der Arbeiter 1919 gesät hatten: den monarchistisch-faschistischen Staatsstreich der Kapp und Ehrhardt, deren Regimenter auch ins Wuppertal einmarschierten. Auf ihre Helme ist das Hakenkreuz gemalt. Aber jetzt zeigte sich, was die Einheitsfront vermag. Die Leitungen der KPD, SPD und USPD organisierten vereint den militärischen Gegenangriff. Im westfälischen Hagen und Hamm standen die Arbeiter bereits in siegreichen Kämpfen mit den Weißen. Man mußte also die Schlacht von den Höhen her beginnen lassen, von denen das Wuppertal umgeben ist. So konnten die bereits erfolgreichen Arbeiter der benachbarten Industriereviere eingreifen und die Wuppertaler mit Waffen versorgen, die dem geschlagenen Feind schon in stattlichen Mengen abgenommen waren. Das Kommando der Weißen, an seiner Spitze Generalmajor von Gilhausen, war schon mitten im Kampf geflohen und hatte die Soldaten ihrem Schicksal überlassen. Bald waren Elberfeld und Barmen in den Händen der Arbeiter, die in den folgenden Tagen der Reichswehr neue schwere Niederlagen beibrachten. In langen Zügen wurden die gefangenen Offiziere und Soldaten ins Elberfelder Polizeipräsidium eingeliefert. Das Volk staute sich zu Zehntausenden in den Straßen, die von Verwünschungen widerhallten. Aber weder draußen noch im Präsidium geschah den Gefangenen etwas zu Leide (in demselben Präsidium hauchten sechs Antifaschisten im vorigen Jahr ihr Leben unter der Folter aus). Das waren die Wuppertaler Arbeiter und ihre Einheitsfront, das waren ihre Tapferkeit, ihr Sieg und ihre Großmut.

Fünfzehn Jahre später ist unter dem faschistischen Terror die Einheitsfront, die damals von Severing zugunsten der weißen Generale und der Trustherren gebrochen wurde, wieder Wirklichkeit geworden. Unterschiedslos begannen in Wuppertal Kommunisten, Sozialdemokraten, Parteilose und Christliche eine freigewerkschaftliche Tätigkeit in den Betrieben zu entfalten. Auf die Vertrauensräte wurde ein lebhafter Druck für die Vertretung der Belegschaftsforderungen ausgeübt. Delegationen debattierten mit den Betriebsdirektionen um die Besserstellung der Arbeiter. Das war für die Regierung der „Volksgemeinschaft“, die den Unternehmern ungeheure Gewinne durch die Niederhaltung des Proletariats verschafft, unerträglich. Die Gestapo griff ein. Es war kein Zufall, daß die Hauptverhaftungen im Vorjahr kurz vor den Vertrauensrätewahlen erfolgten. Die Oppositionsbewegung in den Betrieben sollte gebrochen und durch den Terror ein Wahlergebnis erzwungen werden, mit dem das Hitlerregime hätte zufrieden sein können. Die Absicht gelang gründlich daneben. Und da die Geheime Staatspolizei spürte, daß sie einen vergeblichen Schlag geführt hatte, organisierte sie eine Provokation, würdig der klassischen Ochrana-Methoden. Mehrere dieser geheimpolizeilichen Schurken wurden in der Maske von Antifaschisten in die Betriebe geschickt und organisierten eine Agitation, deren Teilnehmer im Spätherbst 1935 alle verhaftet wurden. Das Hauptlockmittel waren antifaschistische illegale Zeitungen, die von der Gestapo vorher beschlagnahmt worden waren. Der Hunger nach diesem Material ist bei den Arbeitern Deutschlands so groß, daß manche die notwendige Vorsicht außer acht lassen, nur um in den Besitz dieser Zeitungen zu kommen.

Wenn Hitler behauptet, daß er das Volk hinter sich habe, dann liefern die Wuppertaler Massenverhaftungen und die gegenwärtigen Monstreprozesse in allen Teilen Deutschlands ein Dementi, das überzeugender ist als die Erklärungen des Reichskanzlers. Nicht die Herren Fabrikanten und Bankiers, nicht die Creme der Gesellschaft, nicht die hauchdünnen Schichten der oberen Zehntausend werden eingesperrt und geschlagen und verurteilt. Verhaftet und angeklagt, verurteilt und getötet werden die Männer und Frauen des Volkes, angeklagt sind in Wuppertal die Arbeiter der berühmten Kunstseidefabrik Bemberg, der Teppichbetriebe Gebrüder Vorwerk, der metallverarbeitenden Fabriken und des IG-Farben-Werkes Bayer. Angeklagt sind kleine Händler und Angestellte. Angeklagt sind viele, deren Gesichter und Leiber von den Narben des Weltkrieges gezeichnet sind. Angeklagt sind die, die von Jugend an auf der Schattenseite des Lebens standen, die als erwachsene Arbeiter zuletzt 15 bis 20 Mark Wochenlohn nach Hause brachten, weil Hitlers Kriegspolitik die Verbrauchsgüterindustrie ruiniert und die Mehrzahl der Wuppertaler Betriebe die Kurzarbeit einführen mußte. Angeklagt sind diejenigen, die von den baltischen Grafen, von Hitler und Goebbels als Minusmenschen oder Untermenschen beschimpft werden.

Aber diese „Untermenschen“ beschämen ihre Richter. Die Herrennaturen der SA- und SS-Führung versinken klein und häßlich vor den Angeklagten, in denen sich einfache Größe des Herzens und das Bewußtsein der revolutionären Tradition mit der Härte des Willens vereint, den keine Macht der Erde beugen kann.

Welch ein himmelweiter Unterschied zwischen diesen Angeklagten, die schon durch eine Hölle der Folterung hindurchgingen, und den Herren, die zu ihren Richtern ernannt sind! Da kann von einer Rechtsprechung selbst im bürgerlichen Klassensinn gar keine Rede sein. Da sitzen Leute, die sich nie in ihrem Leben mit juristischen Fragen beschäftigten, aber dafür einen blutigen Haß gegen den proletarischen Befreiungskampf mit allen Fasern in sich eingesogen haben: drei höhere SA-Führer, zwei Gruppenführer der SS, ein Fliegeroberleutnant. Um nach außen wenigstens die juristische Form zu wahren, wird dieses Gremium, das sich „Volksgericht“ nennt, von einem Juristen geleitet. Aber selbst dieser hatte sich vor dem soeben verhandelten ersten Prozeß das Material überhaupt nicht angesehen und nahm erst im Verlauf der Verhandlungen Einsicht in die Akten. Der Fliegeroffizier und die SS-Führer schwiegen die ganzen drei Tage hindurch. Was sollten sie auch reden, wo das Urteil von vornherein feststand! Nur die SA-Führer fühlten sich verpflichtet, zu agitieren und ihren antisowjetischen Analphabetismus unter Beweis zu stellen: „Wissen Sie, daß in Rußland, in einem Land von 365 (!) Millionen Einwohnern, zwei Millionen Kommunisten die übrigen 363 Millionen terrorisieren?“ wandte sich allen Ernstes ein SA-Führer an die Angeklagten.

Und diese? Drei Generationen standen da vor Gericht: Greise im siebenten Lebensjahrzehnt, Männer des Schützengrabens und junge Arbeiter, deren Jugend in die Nachkriegszeit fiel. Drei Generationen – aber ein Wille. Mehrere Parteien – aber eine Todfeindschaft gegen die Hitlerdiktatur. Verschiedenartige soziale Herkunft – aber einig und einander würdig im Mut des Bekennertums und im Ziel: dem Sturz des Faschismus.

Ein seit 1893 politisch organisierter, alter sozialistischer Arbeiter ruft den Richtern entgegen: „Hier in diesem Saal hat August Bebel gestanden, als er während des Sozialistengesetzes angeklagt wurde. Wir sind das geblieben, was er war!“

Ihm folgt ein 26jähriger: „Mein Bruder war 1914 Kriegsfreiwilliger. Ich war noch ganz jung. 1917 kam er zum erstenmal auf Urlaub und sagte zu mir: ‚Wenn Du einmal so alt bist wie ich, und es kommt wieder ein Krieg, und du meldest Dich freiwillig, dann schlage ich Dich tot.‘ Aus diesem Grunde bin ich später Kommunist geworden, weil ich weiß, daß ein Sowjetdeutschland in Verbindung mit der Sowjetunion jeden Krieg in Europa unmöglich macht.“

Ein aus dem bürgerlichen Lager kommender Angeklagter, Prokurist einer großen Handelsfirma, schildert seinen politischen Entwicklungsgang: „Ich war immer Demokrat, und erst als ich von dem ungeheuren Terror und den schrecklichen Mißhandlungen nach Hitlers Machtantritt hörte, bin ich Kommunist geworden.“

Der Vorsitzende fällt ihm ins Wort: „ Wenn Sie hier so etwas sagen, kann es Sie den Kopf kosten.“ Der Angeklagte: „Für das, was ich getan habe, trage ich auch die Folgen.“

Ist es nicht klar, das eine solche Haltung den Stolz und die Bewunderung der ganzen werktätigen Bevölkerung hervorruft, deren sich im ersten Augenblick nach den Massenverhaftungen eine vorübergehende Deprimierung bemächtigt hatte? Die Urteile sind furchtbar. Von der ersten Angeklagten-Gruppe, deren Erklärungen wir hier zum Teil wiedergaben, wurden der kommunistische Genosse Bertram zu 15 Jahren Zuchthaus, vier Angeklagte zu je 10 Jahren, vier weitere zu je 8 Jahren Zuchthaus und die übrigen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Ein zweiter im Dezember gegen 59 Remscheider Arbeiter geheim durchgeführter Prozeß – so sehr fürchten die Ankläger die gefesselten Angeklagten! – brachte insgesamt 200 Jahre Zuchthaus.

Aber was den Verurteilten die Kraft gibt, ihr schweres Los zu tragen, ist das Bewußtsein, die Sache des Volkes zu vertreten. Und so, wie sie ihre Kraftquelle im Volk haben, strömt aus ihrer Kühnheit im Gerichtssaal neue Energie ins Volk. Es lag noch tiefe Dunkelheit über Wuppertal, als während des Prozesses gegen Bertram und Genossen die Arbeiter jeden Morgen in aller Frühe zu Hunderten vor dem Gerichtsgebäude Schlange standen, um als Zuhörer in den Verhandlungssaal eingelassen zu werden. Kein Wort der Angeklagten entging ihnen. Wenn diese vom Untersuchungsrichter über die Straße zum Prozeßgebäude geführt wurden, dann ertönte kein Schimpfruf, kein Hohn- oder Rachegeschrei wie bei jenem Gefangenenzug 15 Jahre zuvor. Auch diesmal warteten Tausende. Aber beim Nahen der roten Gefangenen entblößten sich alle Köpfe, heimliche Grüße, verstohlene Händedrücke wurden gewechselt. Kein Zweifel, auf wessen Seite das Volk steht.

Die Frauen geben an Kraft der antifaschistischen Gesinnung und Tat den Männern nichts nach. 658 der Angeklagten sind verheiratet. 658 Frauen stehen an den Besuchstagen vor dem Gefängnis, um das, was sie sich selbst vom Munde absparen, ihren Männern zu bringen. Die Herren Staatsanwälte und Gestapo-Kommandeure können diese Liebe, diese Solidarität nicht begreifen, weil sie selbst einer solchen nicht fähig sind. Sie haben die Frauen verhaftet und tagelangen Verhören unterziehen lassen, um zu erfahren, woher das Geld stamme. Sie sind nicht auf ihre Kosten gekommen.

Der grausame Terror, unter dem seit dem Januar 1933 in Wuppertal dreißig Arbeiter verbluteten, die Massenverhaftungen und Riesenprozesse vermochten nicht, den Faschisten die so gefürchtete Opposition vom Hals zu schaffen. Um die Jahreswende sind jetzt wieder Flugblätter der Kommunistischen Partei erschienen, die zahlreich in die Betriebe, in die Kreise der SA und des intellektuellen Mittelstandes eingedrungen sind und tiefen Eindruck hervorriefen. Ja, „der Wuppertaler Kommunismus ist une vérité“, aber er ist es nicht nur in Wuppertal. Die antifaschistische Opposition, die in den Betrieben ihr Zentrum hat, ist nicht zu überwinden, und ihr Geist kann nicht besser geschildert werden als durch das Wort, mit dem der 18jährige Otto Funke in Elberfeld seine Verurteilung zu vier Jahren Zuchthaus entgegennahm: „In vier Jahren sitzt ihr nicht mehr da oben, dann sitzen wir da!“

Wenn die Völker der Erde in handelnder Solidarität sich vereinigen, wird ihre Aktion die todesbedrohten Antifaschisten unseres Landes, die Angeklagten von Neukölln, von Wuppertal, von Hamburg und Bremen befreien können.

Die Schließung der Konzentrationslager und die Freilassung Thälmanns wie aller politischen Gefangenen – diese Forderungen der deutschen Antifaschisten müssen in der ganzen Welt Widerhall finden.

Erschienen unter: Hans Behrend. Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung (Basel), 1936, Nr. 4, S.161-163.

Albert Norden: Die Nation und wir. Ausgewählte Aufsätze und Reden 1933-1964, Band 1; Berlin, 1965; S. 91-97