Günter Weisenborn: Die Nationen Europas
21. Dezember 2020
Wie verschämt in Bettlermänteln, dürr, zunderrrot
stehn sie weit auseinander im hallenden Europa
vor dem Abendhimmel des Kontinents und hören
verstört Blut tropfen und das Rascheln der Brandstätte,
die Nationen.
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Seht sie, die Dunklen, mit knirschenden Kiefern,
den Fuß in den Ratten, den Mund welk von Kränkungen.
Noch dampft die Eifersucht aus den mißstrauischen Mänteln,
und schon tasten die Hände fatal nach der schartigen Waffe,
die Nationen.
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Eifersüchtige Bettler, so stehn sie, jede fern von den andern,
Honig auf der Zunge, Verwünschungen brütend und düster,
mit funkelndem Wundensaum, mit Blut und Tressen gezierte,
hinter der Hecke von Grenzen, über die Flore wehn
die Nationen.
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O ihr natürlichen Völker der Welt, werft ab diese Mäntel,
die prunkend zerschundenen eures ergrauten Nationalismus,
tretet hervor, ihr Völker, von Lügen geschwefelte ihr,
werft ab die Masken von Fliegen, die Panzer des Verdachts, verlaßt
die Nationen.
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Tretet zusammen, ihr Völker, der Welt, entwerft die Ordnung der neuen Welt,
verlaßt die Nationen, die Kriegermäntel werft ab,
tretet zusammen, ihr Völker, zeigt euch die offenen Hände,
das neue Jahrhundert erwartet von uns das neue Gesetz
des Menschen.
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in: Gedichte gegen den Krieg, Herausgegeben von Kurt Fassmann, 1961, München, Seite 229