Am Rande des Aufstands
25. Oktober 2020
Trump stachelt sie an, Polizei und Spezialeinheiten lassen sie gewähren: In den USA treten faschistische Milizen immer offener auf. Der gemeinsame Feind ist die »Black Lives Matter«-Bewegung
Jürgen Heiser in junge Welt vom 20.Oktober 2020
Ende August 2020 schrieb Anne Branigin auf der afroamerikanischen Onlineplattform The Root, es gebe »bestimmte Zahlen, die einem aus dem einen oder anderen Grund ins Gedächtnis eingebrannt« seien. Dazu gehörten beispielsweise die »acht Minuten und 46 Sekunden«, die der inzwischen entlassene und unter Anklage gestellte weiße Polizeibeamte Derek Chauvin aus Minneapolis auf dem Nacken des Schwarzen George Floyd kniete, bis dieser erstickte. Eine weitere Ziffer, »eine einfache, die man sich leicht merken« könne, sei »die Zahl drei« – in dem Vierteljahr seit dem Tod George Floyds am 25. Mai 2020 habe es ganze drei Tage gegeben, an denen keine Opfer tödlicher Polizeigewalt in den USA zu beklagen waren. An jedem anderen Tag gab es im Schnitt drei Todesopfer bei gewaltsamen Polizeiaktionen. Dies hatte der Aktivist und politische Analyst Samuel Sinyangwe am 24. August getwittert. An den bis zu diesem Datum vergangenen 235 Tagen des Jahres 2020 waren bereits 751 Todesopfer durch Polizeigewalt registriert worden. Inzwischen ist die Zahl nach der Statistik des von Sinyangwe 2013 mitbegründeten »Mapping Police Violence« (MPV), einer Initiative zur Beobachtung von Polizeigewalt, bis zum 30. September auf insgesamt 839 Tote angestiegen.
Attacken auf Protestierende
Doch das Land ist weit davon entfernt, das Problem rassistisch und sozialdarwinistisch motivierter Polizeigewalt zu lösen. Im Gegenteil verfestigen sich durch die Innenpolitik der Regierung Donald Trumps die Konfrontationslinien in der Gesellschaft. Soziale und politische Konflikte werden mit Gewalt ausgetragen. Gegen die nach dem Mord an George Floyd erneut erstarkende antirassistische »Black Lives Matter«-Bewegung (BLM) mobilisierte Scharfmacher Trump durch seine Hassreden nicht nur den rassistischen Mob unter seiner Anhängerschaft, sondern neben der Nationalgarde auch militärisch ausgerüstete maskierte Spezialeinheiten unterschiedlichster Bundespolizeitruppen. Sie sollten die über Wochen und Monate andauernden Demonstrationen in der Hauptstadt Washington und in Zentren des Widerstands wie Minneapolis, Portland, Seattle, Los Angeles und New York City zerschlagen. Als Tausende Demonstranten das Weiße Haus belagerten und Trump gegen sie die aus US-Armee und Sicherheitsorganen rekrutierten anonymen »grünen Männer« auffahren ließ, nannte das Newsportal Struggle for Socialism (SfS) dieses Ereignis »Trumps 1. Juni-Putsch«.
Noch während der wachsenden Proteste schoss der weiße Polizist Rusten Sheskey am 23. August 2020 dem Afroamerikaner Jacob Blake in Kenosha (Wisconsin) im Beisein seiner drei Kinder mehrfach in den Rücken. Wie durch ein Wunder überlebte der 29jährige, er wird aber querschnittsgelähmt bleiben. In der Folge dieser erneuten brutalen Polizeigewalt gingen in vielen US-Städten noch mehr Menschen empört auf die Straße. Zwei Tage nach Beginn dieser neuerlichen Proteste marschierten in Kenosha faschistische Milizionäre auf, die demonstrativ ihre automatischen Waffen präsentierten, ohne dass die Polizeikräfte sie daran hinderten. Bald machte das Gerücht die Runde, dass einer der Milizionäre scharf geschossen und dabei die beiden Aktivisten Anthony Huber und Joseph »Jojo« Rosenbaum getötet und einen dritten, Gaige Grosskreutz, verwundet habe.
Im Internet tauchten Videos auf, die den 17jährigen Kyle Rittenhouse mit seinem halbautomatischen Gewehr AR-15 zeigten, wie er am Abend des 25. August die tödlichen Schüsse auf die Demonstranten abgab. Über den Schützen wurde bekannt, dass er als Polizeikadett gedient und über seine Facebook-Seite die Parole »Blue Lives Matter« verbreitet hatte. Das Blau steht für die Farbe der Polizeiuniform, und die Parole war eine Reaktion aus »Law and Order«-Kreisen auf die Kritik der BLM-Bewegung an rassistischer Polizeigewalt. Die Videos zeigten auch, wie Polizeibeamte die bewaffneten Rechten grüßten und ermunterten. Konsequenterweise unternahm niemand von den Sicherheitskräften auch nur den Versuch, Rittenhouse und seine Kumpane festzunehmen, obwohl auch für sie an dem Abend ab 20 Uhr eine Ausgangssperre galt. Rittenhouse konnte nach den tödlichen Schüssen sogar seelenruhig mit seinem geschulterten Sturmgewehr Polizeiketten passieren, obwohl aus der Menge auf ihn gezeigt und gerufen wurde, er habe gerade mehrere Menschen erschossen. Und während das Opfer der Polizeigewalt, der schwerverletzte Jacob Blake, verhaftet und von Polizisten mit Handschellen an sein Krankenhausbett gekettet wurde, schaffte es Rittenhouse, völlig ungehindert in seine zwanzig Meilen entfernte Heimatstadt Antioch (Illinois) zurückzukehren. Erst dort wurde er schließlich verhaftet und später wegen Mordes unter Anklage gestellt.
Wie das Newsportal SfS am 29. August 2020 berichtete, hatte sich Kenoshas Polizeichef Daniel Miskinis geweigert, die tödlichen Schüsse auf Huber und Rosenbaum als Morde zu werten. Sie seien »selbst schuld an ihrem Tod«, da sie sich nach Beginn der Ausgangssperre noch »illegal« auf der Straße befunden hätten. Andererseits fand Miskinis die Selbstjustiz der faschistischen Miliz und ihre Missachtung der Ausgangssperre »in Ordnung«. Sie seien »einfach bewaffnete Zivilisten, die gekommen waren, um ihr verfassungsmäßiges Recht auszuüben und Eigentum vor Plünderern und Brandstiftern zu schützen«.
Laut SfS gehörten die meisten der bewaffneten Milizionäre der »Kenosha Guard« an, einer von dem ehemaligen Stadtrat Kevin Mathewson gegründeten Einheit. Auf seiner Facebook-Seite hatte Mathewson einen »Aufruf zu den Waffen« gegen die BLM-Demonstrationen veröffentlicht. Auf dem rechten Sender Fox News Channel diffamierte der hochdotierte Moderator Tucker Carlson in seiner Talkshow den zum Krüppel geschossenen Jacob Blake als »Schläger«, um gleich darauf den Faschisten Rittenhouse zum aufrechten Patrioten zu erklären: »Sind wir wirklich überrascht darüber, dass Plünderung und Brandstiftung zu Mord führten? Warum reagieren wir schockiert, dass 17jährige mit Waffen die Ordnung aufrechterhalten, wenn niemand sonst es tut?«
Zur Gewalt anstacheln
Tuckers Verständnis und Lob für den »Patrioten« Rittenhouse im Hauptprogramm des Fox News Channel spiegelt exakt die Haltung der Herrschaftsclique um den amtierenden US-Präsidenten wider. Das »viertägige Hassfest«, wie SfS den am 24. August begonnenen Nominierungsparteitag der Republikaner in Charlotte (North Carolina) nannte, fand wegen der Coronapandemie nur am ersten Tag live statt, um Trump von den zugelassenen 336 Delegierten als Kandidaten für die am 3. November stattfindende Präsidentschaftswahl bestätigen zu lassen. An den restlichen drei Tagen wurde die Veranstaltung online fortgesetzt. Viele Redner zeichneten ein apokalyptisches Bild für den Fall, dass Trumps demokratischer Gegner gewinnen sollte. Joseph Biden werde »den Sozialismus einführen, den Amerikanern ihre Waffen wegnehmen und den Polizeibehörden die Finanzierung entziehen«. Es werde Mord und Totschlag in den Städten geben durch »linksextremistischen« Meinungsterror – kurz: die »Zerstörung Amerikas«. Biden sei »eine Marionette der extremen Linken und von ›Black Lives Matter‹«. Allein er, Trump, stehe »zwischen dem amerikanischen Traum und der totalen Anarchie«.
Kyle Rittenhouse, der schon im Januar bei Trumps Kundgebung in Des Moines (Iowa) in der ersten Reihe der begeisterten Anhänger gestanden hatte, fühlte sich zusammen mit seinen Mitstreitern durch die Reden des Parteitags, besonders aber durch Trumps Ermutigung zum Handeln aufgefordert. So griffen sie am zweiten Abend des Parteikonvents zu den Waffen und machten sich auf, die angebliche »totale Anarchie« in den Straßen Kenoshas zu beenden. In Bewunderung für ihren Helden Trump wollten sie endlich zurückschlagen gegen »Black Lives Matter« und diese Bewegung als Speerspitze der größten Mobilisierung gegen das weiße Vorherrschaftsdenken in der Geschichte der USA beenden. Eine bunte Bewegung von zwanzig Millionen Menschen war seit Mai an rund zweitausend Orten in Stadt und Land gegen Rassismus, Polizeigewalt und die Überbleibsel von Kolonialismus und Sklaverei aufgestanden, um endlich die tödliche gesellschaftliche Spaltung aufzuheben. Dagegen wollten Rittenhouse und Co. ins Feld ziehen.
Kein Geringerer als Präsident Trump verteidigte den Schützen Rittenhouse. Der habe in Notwehr gehandelt. »Das war eine interessante Situation«, schwadronierte Trump kryptisch auf einer Pressekonferenz vor seinem Besuch in Kenosha, den er nutzen wollte, um den Sicherheitskräften für ihren Einsatz zu danken. »Äußerst gewalttätig« sei Rittenhouse von Demonstranten angegriffen und »wäre wohl getötet worden«, phantasierte Trump. Beweise für seine Vermutung hatte er keine. Dafür viel Lob für die Polizei. Ihre Reaktion auf die Proteste nannte er »wirklich unglaublich und inspirierend«, denn das seien »keine friedlichen Proteste, sondern inländischer Terror« gewesen. Als schlimmstes Problem machte er dann »die linksgerichtete Indoktrination« in Schulen und Universitäten aus. Dort würden »jungen Amerikanern Lügen beigebracht, Amerika sei ein böses und von Rassismus geplagtes Land«, so Trump.
Ein ermordeter Antifaschist
Die von Inhabern höchster Regierungsämter und in den Medien gerechtfertigten Morde an Demonstranten versetzten die Protestbewegung jedoch nicht in Panik, sondern bestärkten sie darin, sich gegen alle Sorten von »grünen Männern« und Faschisten zu wehren. Auch in Portland traten diese verstärkt auf, um die seit dem Mord an George Floyd im Mai täglich weitergehenden Protestaktionen zu beenden. Dabei wurde am 29. August 2020 das Mitglied einer rechten Miliz erschossen. Nach einem Bericht des Wall Street Journal hatte sich die polizeiliche Suche nach dem Täter schon bald auf den 48jährigen Armeeveteranen und Antifaschisten Michael Reinoehl konzentriert. Am 3. September gegen 23 Uhr(Ortszeit) veröffentlichte das Internetportal Vice News überraschendein Gespräch mit Reinoehl, der freimütig erzählte, er habe bei den Protesten in Portland »für Sicherheit gesorgt«.
In dem Gespräch, das der freie Journalist Donovan Farley für Vice News führte, erklärte Reinoehl, er habe in dem Moment, als er und ein Freund von Faschisten angegriffen wurden, »in Selbstverteidigung gehandelt«. Wie sich später herausstellte, war der Angreifer Aaron »Jay« Danielson von der rechten Gruppe »Patriot Prayer«. Anwälte hätten ihm davon abgeraten, darüber zu sprechen, aber, so Reinoehl, »ich halte es für wichtig, dass die Welt wenigstens etwas von dem erfährt, was hier wirklich vor sich geht«. Er habe in dem Moment keine Wahl gehabt, sagte Reinoehl. »Hätte ich zusehen sollen, wie die meinen farbigen Freund töten? Ich hatte keine Wahl.«
Am Morgen des 4. September um 6.24 Uhr lautete die neue Vice News-Schlagzeile: »In Verbindung mit Schießerei in Portland gesuchter Aktivist soll von der Polizei getötet worden sein«. Noch in der Nacht, wenige Stunden nachdem das Gespräch mit Michael Reinoehl gepostet worden war, hätten Polizisten ihn erschossen. Geschehen sei das im Ort Lacey im Westküsten-Bundesstaat Washington, etwa zwei Stunden entfernt von Portland, »bei dem Versuch, ihn festzunehmen«, so Vice News.
Recherchen der New York Times (NYT), die am 11. Oktober aktualisiert wurden, ergaben jedoch ein anderes Bild. Demnach hatte eine von Bundesagenten geleitete »Sonderfahndungseinheit für Gewalttäter« namens »Pacific Northwest Violent Offender Task Force«, dem »Antifaunterstützer« Reinoehl aufgelauert, als er ein Apartmenthaus verließ und zu einem Wagen ging. Der Augenzeuge Pfarrer Nathaniel Dingess ließ seinen Anwalt verbreiten, was die Zeitung The Oregonian so beschrieb: Er habe gesehen, wie »Beamte mehrere Schnellfeuergarben auf Reinoehl schossen, bevor es einen kurzen ›Stoppbefehl‹ gab, auf den weitere Schnellfeuerstöße durch zusätzliche Beamte folgten«. Trevor Brown, Mieter in einem Nachbarhaus, hatte laut NYT, »mehrere Schüsse gehört und vier Polizeibeamte auf der Straße gesehen«. Dann habe ein Mann auf dem Boden gelegen.
Auch Lieutenant Ray Brady vom Thurston County Sheriff’s Office gab an, dass »vier Beamte ihre Waffen abgefeuert« hätten. »Mr. Reinoehl« habe »eine Handfeuerwaffe bei sich gehabt«, er könne jedoch »nicht bestätigen, dass der damit geschossen« habe. Es gebe auch »keine Aufnahmen von Körperkameras von diesem Vorfall«. Was die Sache suspekt machte, denn gerade zu erwartende schwierige Verhaftungssituationen sollen nach den US-Polizeirichtlinien mit Bodycams dokumentiert werden. Und Reinoehl galt als »Antifa«, gegen ihn lag ein Haftbefehl vor.
Der Erschossene war offenbar auch schon länger im Visier der Sicherheitsbehörden. Er lebte mit seinen beiden heranwachsenden Kindern in der Gegend von Portland und »war in den letzten Wochen bei den Demonstrationen in der Stadt ständig präsent«, um »für die Sicherheit der Demonstranten zu sorgen«, wie die NYT es umschrieb. Er sei »auf der ganzen Linie einhundert Prozent Antifa«, soll er im Juni auf Instagram geschrieben haben, und: »Wir wollen keine Gewalt, aber wir werden auch nicht davor weglaufen!«
Als Reinoehls Tod in Portland bekannt wurde, versammelten sich Hunderte Demonstranten vor einer Polizeiwache und skandierten Parolen. An die Mauern der Wache war »An euren Händen klebt Blut!« und »Ihr habt Michael Reinoehl ermordet« gesprüht worden. Reese Monson, ein Sprecher der Protestbewegung und wie Reinoehl im Ordner- und Sicherheitskollektiv organisiert, sagte, sie alle seien in Deeskalationstechniken geschult. Reinoehl sei »darin ausgezeichnet« gewesen. Er habe die Aufgabe gehabt, »während der Demonstrationen potentielle Provokateure abzufangen und zur Beruhigung von Konflikten beizutragen«, sagten andere Aktive der NYT. »Mike war buchstäblich ein Schutzengel«, erklärte die Aktivistin Teal Lindseth, der bei den Protesten der Kiefer dreifach gebrochen wurde. Reinoehl hätte »jeden beschützt, egal was passiert«.
Leider konnte er sich selbst nicht schützen vor denen, die wie die erwähnte »Taskforce« mit einem klaren Auftrag zu ihm kamen. Sie gehört zu den unter Trump von Heimatschutzminister Chad Wolf aufgestellten Sondereinheiten und setzt sich aus Beamten des U. S. Marshals Service, verschiedenen Polizeistellen und Sheriff Departments sowie einer Spezialeinheit zur Bekämpfung von Gefängnismeutereien des Westküstenstaats Washington zusammen. Nachdem die Sondereinheit Reinoehl erschossen hatten, erklärte US-Justizminister William P. Barr laut NYT: »Die Straßen unserer Städte sind nun wieder sicherer.« Die Regierung Trump habe sich »als fähig erwiesen, Reinoehl aufzuspüren«. Dies sei »ein unmissverständlicher Beweis dafür, dass die Vereinigten Staaten durch das Gesetz regiert werden und nicht durch einen gewalttätigen Mob«, so Barr.
Im Sommer 2020 hatte Barr in seinem Ministerium ein Lagezentrum gegründet, um wegen der Proteste nach dem Mord an George Floyd »Ermittlungen über die Ausbreitung gewalttätiger regierungsfeindlicher Extremisten anzustellen«, wusste die NYT zu berichten. Die Bundespolizei FBI habe zum Bedauern Barrs ihr Augenmerk mehr auf rechte Gewalttäter gerichtet, so das Blatt, aber dem Justizminister sei es »in seinen öffentlichen Erklärungen immer darum gegangen, die Gewalt linken Gruppen und Bewegungen, insbesondere der Antifa, in die Schuhe zu schieben«. Er habe sich damit den ständigen Behauptungen von Präsident Trump angeschlossen, dass es »die Akteure der Linken sind, die zu gewalttätigen Ausschreitungen anstiften«.
Ende Juli 2019 hatte Zeit online gemeldet, US-Präsident Trump habe getwittert, er wolle »Antifagruppen« in den USA »als terroristische Organisationen einstufen« lassen, um »der Polizei ihre Arbeit zu erleichtern« (Siehe jW-Thema vom 26.9.2019). Doch hinter den Kulissen wurde bereits das Gerüst für den Aufbau einer Bürgerkriegsarmee geschaffen, in der sich Spezialeinheiten des Bundes und rechte »patriotische Milizen« auf Sonderaufgaben vorbereiten können. Die gezielte Tötung von Michael Reinoehl, weil er Verteidigungsstrukturen gegen faschistische Gewalttäter organisierte, ist ein Ausdruck dieser gewollten Zusammenarbeit. Für das US-Magazin Counterpunch besteht kein Zweifel, dass Reinoehl, weil er verdächtigt wurde, einen Trump-Anhänger getötet zu haben, »von Bundesagenten auf eine Weise getötet wurde, die man als Attentat bezeichnen könnte«. Das habe öffentlich viel zuwenig Beachtung gefunden. Vor Publikum habe Trump zu der »außergerichtlichen Tötung« gesagt: »Dieser Typ war ein Gewaltverbrecher, und die US-Marshals haben ihn getötet. Und ich sage Ihnen etwas: So muss es sein. Für solche Verbrechen muss es Vergeltung geben.«
Trump und die »Proud Boys«
Im April 2020 hatte Trump seine Unterstützer in einem Tweet aufgefordert: »Befreit Michigan!« und damit Hunderte von Demonstranten ermuntert, das Kapitol des US-Bundesstaates zu stürmen, um die demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer wegen ihrer strikten Maßnahmen gegen die Coronaviruspandemie unter Druck zu setzen. Viele der Eindringlinge gehörten rechten Milizen an und trugen Schusswaffen, mit denen sie Abgeordnete bedrohten. Nach dem Protest weigerte sich Trump, diese Aktion zu verurteilen. Er nannte die Milizionäre »sehr gute Leute« und forderte Whitmer auf, doch »einen Deal« mit ihnen zu machen. Anfang Oktober warf die Gouverneurin Trump aus neuem Anlass auf einer Pressekonferenz vor, er habe »Wut geschürt und jene ermutigt, die Angst, Hass und Spaltung verbreiten«. Da waren nämlich gerade zwei dieser rechten Milizen aufgeflogen, weil sie die von ihnen zur »Tyrannin« erklärte Gouverneurin kidnappen und die Regierung des Bundesstaates stürzen wollten. Dreizehn Milizionäre wurden verhaftet und angeklagt, mit »200 Männern« das Kapitol erneut stürmen und Geiseln nehmen zu wollen. Darunter die Gouverneurin, um sie »noch vor den Präsidentschaftswahlen im November 2020 an einem sicheren Ort wegen Hochverrats anzuklagen«, wie Whitmer erschüttert berichtete.
Das Onlinemagazin Business Insider zitierte die Gouverneurin mit dem Vorwurf an Trump, er habe sich während der ersten Präsidentschaftsdebatte mit seinem Kontrahenten Biden am 29. September geweigert, weiße Rassistengruppen wie die »Proud Boys« ausdrücklich zu verurteilen. Der Präsident sei deshalb »mitschuldig« an extremistischer Gewalt in den USA. Die »Proud Boys« sind nach Informationen der in Montgomery (Alabama) ansässigen Bürgerrechtsorganisation »Southern Poverty Law Center« ein nationalistisches, rassistisches und islamophobes Sammelbecken von Frauenhassern, das Mitglieder des Ku-Klux-Klans, Antisemiten, Rassisten und rechte Milizen zusammenbringt.
Auf die Frage des Moderators der Fernsehdebatte, Chris Wallace, ob er bereit sei, »weiße Rassisten und Milizen zu verurteilen und zu sagen, dass sie sich zurückziehen müssen«, hatte Trump in die Fernsehkameras geblickt und nach kurzem Zögern geantwortet: »›Proud Boys‹, tretet zurück, aber haltet euch bereit! Ich sage euch, irgend jemand muss etwas gegen die Antifa und die Linke unternehmen!« Diese Worte zitierend erklärte Whitmer vor der Presse, die Hassgruppen hätten »die Worte des Präsidenten als einen Schlachtruf, als einen Aufruf zum Handeln« vernommen.
Bislang wollte sich Trump nie zu der Frage äußern, ob er die Macht friedlich übergibt, falls er die Wahl am 3. November verliert. Seine unverhohlene Aufforderung an die »Proud Boys«, sich bereitzuhalten, wurde auch von anderen Gruppen als Aufruf zum Handeln aufgefasst. Denn nun planen rechte Milizen ganz offen, am 3. November bewaffnet vor Wahllokalen zu patrouillieren. Kommentatoren halten deshalb gewaltsame Zusammenstöße mit antifaschistischen Gruppen für möglich und befürchten eine Einschüchterung der wahlwilligen Trump-Gegner.
Stewart Rhodes, Anführer der extrem rechten »Oath Keepers«, sagte der Los Angeles Times (LAT) kürzlich, seine Mitstreiter werden »am Wahltag unterwegs sein, um die Wähler zu schützen«. Er sei besorgt, dass »die radikale Linke die Wähler ins Visier nimmt«. Die »Oath Keepers« (dt. »Die Eidtreuen«) sind eine Miliz aus ehemaligen und aktiven Soldaten und Polizisten, die dafür eintreten, »jeden Befehl zu verweigern, der darauf abzielt, das amerikanische Volk zu entwaffnen«. Sie stehen in der Tradition rechter Milizen, die sich wie die Waffenlobbyisten der National Rifle Association ihr im Zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung garantiertes Grundrecht auf Besitz und Tragen von Waffen nicht nehmen lassen wollen. Die »Oath Keepers« patrouillierten 2014 auch in den Straßen von Ferguson (Missouri) gegen die Proteste nach dem von einem weißen Polizisten verübten Mord an dem schwarzen Teenager Michael Brown. Cassie Miller vom »Southern Poverty Law Center«, sagte der LAT, dass diese Milizionäre »nicht nur die Wähler einschüchtern« wollten, sondern hofften, »die Situation zu chaotisieren«, weil sie »nicht bereit sind, etwas anderes als einen Sieg Trumps zu akzeptieren«.
Der Präsident versuche nicht einmal, seine Absichten zu verbergen, stellt Counterpunch in seiner jüngsten Ausgabe fest. »Medien, liberale Experten und Politiker müssen jetzt in aller Dringlichkeit vermitteln, dass wir am Rande eines Aufstands stehen.« Doch noch hofften zu viele in den USA, Trump allein an den Urnen besiegen zu können. »Sie sind sich leider nicht bewusst, wie weit er bereit ist zu gehen, um an der Macht zu bleiben.« Jahrelang hätten sie sich »von der Rhetorik liberaler Führer einlullen lassen, dass ihr Kreuz auf dem Wahlzettel ein probater Ersatz für nachhaltiges politisches Organisieren« sein könne. »Das ist es jedoch nicht«, so der Kommentar in Counterpunch, »und vielleicht werden wir erst am Wahltag herausfinden, wie unzureichend diese Art der Verteidigung gegen Trumps Machtergreifung ist«.
https://www.jungewelt.de/artikel/388671.usa-vor-den-wahlen-am-rande-des-aufstands.html